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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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nachlässiger fortgepflanzt sind, dann wird die Untersuchung über die Glaub¬
würdigkeit und Zuverlässigkeit der Quellen immer verwickelter; äußere
Momente können für die Entscheidung in einzelnen zweifelhaften Fällen selten
und nicht mit voller Zuversicht in Anspruch genommen werden, die inneren
Gründe müssen mehr und mehr den Ausschlag geben. Die schwierigsten
Probleme aber erwachsen für die Kritik nicht durch die Entstellungen, welche
aus zufälligen Versehen und Irrthümern entstehen, wie arg diese auch im Ver¬
lauf der Zeit durch Nachlässigkeit und Unwissenheit wuchernd sich ausbreiten
mögen, sondern durch die Verderbnisse, welche aus wohlgemeinten, aber
verkehrten Verbesserungen hervorgehen. Es fehlt nie an solchen Ab-
schreibern und Correctoren, welche wohl im Stande sind zu bemerken, daß sich
ein Fehler eingeschlichen hat, die aber aus Mangel an Geist und Scharfsinn
den Fehler am verkehrten Orte suchen und durch ihre Verbesserungen entweder
diesen gar nicht treffen, oder mit dem Fehlerhafter auch das Gesunde verändern,
und so den trügerischen Schein von etwas an sich Erträglichen aber
Unwahrem an die Stelle des offenbar Verkehrten setzen. Gesellen sich
zu solchen ungeschickten Correctoren, die ihr Geschäft mit behaglichem Eiser aus¬
zudehnen Pflegen, noch die Ueberklugen, welche kein Bedenken tragen auch den
Autor selbst gelegentlich zu verbessern, damit alles hübsch das Ansehen gewinne,
welches ihrem Geschmack am meisten zusagt, so ist alle Gefahr da, daß allmä-
lig eine falsche Schminke das echte und ursprüngliche Kunstwerk überzieht.
Da fällt es denn der Kritik oft schwer, so weit festen Boden zu gewinnen, daß
die entstellende Tünche der Restauration entfernt werde, damit nur die alten
Fehler und Lücken wieder zum Vorschein kommen, an deren Heilung sie sich
nur mit aller Vorsicht und Sorgfalt gewissenhafter Methode wagen kann.

Glücklicherweise befindet sich der kritische Herausgeber Beethovens bei
seiner Thätigkeit in einer verhältnißmäßig glücklichen Lage. Der Meister gehört
einer Zeit an, deren Begebenheiten und Verhältnisse, deren Denkart und Em¬
pfindungsweise, deren künstlerische Auffassung und Darstellung wir uns im
Wesentlichen nicht erst durch mühsame Forschung zu vergegenwärtigen haben,
deren Anschauung und Verständniß uns unmittelbar klar ist, und nur im Ein¬
zelnen gelegentlich einer Nachhilfe durch detaillirtes Wissen bedarf. Und der
Künstler selbst ist uns keine fremde Erscheinung, die wir durch einen künstlichen
Apparat erst aus der Ferne in die Nähe rücken müssen, er ist uns gegenwärtig,
wir leben mit ihm, ja er beherrscht uns, und wenn uns zu seinem Verständniß
ja noch etwas mangelt, so liegt das nicht daran, daß er einer erst wieder zu
belebenden Vergangenheit angehört, sondern daß er vorausgeschritten war, auch
der kommenden Generation, die jetzt noch voll Verehrung zu dem höher stehenden
aufschaut. Von diesem Meister sind dann so zahlreiche, so bedeutende Werke
Verschiedener Richtungen und Entwickelungsstufen erhalten, daß es eindrin-


nachlässiger fortgepflanzt sind, dann wird die Untersuchung über die Glaub¬
würdigkeit und Zuverlässigkeit der Quellen immer verwickelter; äußere
Momente können für die Entscheidung in einzelnen zweifelhaften Fällen selten
und nicht mit voller Zuversicht in Anspruch genommen werden, die inneren
Gründe müssen mehr und mehr den Ausschlag geben. Die schwierigsten
Probleme aber erwachsen für die Kritik nicht durch die Entstellungen, welche
aus zufälligen Versehen und Irrthümern entstehen, wie arg diese auch im Ver¬
lauf der Zeit durch Nachlässigkeit und Unwissenheit wuchernd sich ausbreiten
mögen, sondern durch die Verderbnisse, welche aus wohlgemeinten, aber
verkehrten Verbesserungen hervorgehen. Es fehlt nie an solchen Ab-
schreibern und Correctoren, welche wohl im Stande sind zu bemerken, daß sich
ein Fehler eingeschlichen hat, die aber aus Mangel an Geist und Scharfsinn
den Fehler am verkehrten Orte suchen und durch ihre Verbesserungen entweder
diesen gar nicht treffen, oder mit dem Fehlerhafter auch das Gesunde verändern,
und so den trügerischen Schein von etwas an sich Erträglichen aber
Unwahrem an die Stelle des offenbar Verkehrten setzen. Gesellen sich
zu solchen ungeschickten Correctoren, die ihr Geschäft mit behaglichem Eiser aus¬
zudehnen Pflegen, noch die Ueberklugen, welche kein Bedenken tragen auch den
Autor selbst gelegentlich zu verbessern, damit alles hübsch das Ansehen gewinne,
welches ihrem Geschmack am meisten zusagt, so ist alle Gefahr da, daß allmä-
lig eine falsche Schminke das echte und ursprüngliche Kunstwerk überzieht.
Da fällt es denn der Kritik oft schwer, so weit festen Boden zu gewinnen, daß
die entstellende Tünche der Restauration entfernt werde, damit nur die alten
Fehler und Lücken wieder zum Vorschein kommen, an deren Heilung sie sich
nur mit aller Vorsicht und Sorgfalt gewissenhafter Methode wagen kann.

Glücklicherweise befindet sich der kritische Herausgeber Beethovens bei
seiner Thätigkeit in einer verhältnißmäßig glücklichen Lage. Der Meister gehört
einer Zeit an, deren Begebenheiten und Verhältnisse, deren Denkart und Em¬
pfindungsweise, deren künstlerische Auffassung und Darstellung wir uns im
Wesentlichen nicht erst durch mühsame Forschung zu vergegenwärtigen haben,
deren Anschauung und Verständniß uns unmittelbar klar ist, und nur im Ein¬
zelnen gelegentlich einer Nachhilfe durch detaillirtes Wissen bedarf. Und der
Künstler selbst ist uns keine fremde Erscheinung, die wir durch einen künstlichen
Apparat erst aus der Ferne in die Nähe rücken müssen, er ist uns gegenwärtig,
wir leben mit ihm, ja er beherrscht uns, und wenn uns zu seinem Verständniß
ja noch etwas mangelt, so liegt das nicht daran, daß er einer erst wieder zu
belebenden Vergangenheit angehört, sondern daß er vorausgeschritten war, auch
der kommenden Generation, die jetzt noch voll Verehrung zu dem höher stehenden
aufschaut. Von diesem Meister sind dann so zahlreiche, so bedeutende Werke
Verschiedener Richtungen und Entwickelungsstufen erhalten, daß es eindrin-


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[0355] nachlässiger fortgepflanzt sind, dann wird die Untersuchung über die Glaub¬ würdigkeit und Zuverlässigkeit der Quellen immer verwickelter; äußere Momente können für die Entscheidung in einzelnen zweifelhaften Fällen selten und nicht mit voller Zuversicht in Anspruch genommen werden, die inneren Gründe müssen mehr und mehr den Ausschlag geben. Die schwierigsten Probleme aber erwachsen für die Kritik nicht durch die Entstellungen, welche aus zufälligen Versehen und Irrthümern entstehen, wie arg diese auch im Ver¬ lauf der Zeit durch Nachlässigkeit und Unwissenheit wuchernd sich ausbreiten mögen, sondern durch die Verderbnisse, welche aus wohlgemeinten, aber verkehrten Verbesserungen hervorgehen. Es fehlt nie an solchen Ab- schreibern und Correctoren, welche wohl im Stande sind zu bemerken, daß sich ein Fehler eingeschlichen hat, die aber aus Mangel an Geist und Scharfsinn den Fehler am verkehrten Orte suchen und durch ihre Verbesserungen entweder diesen gar nicht treffen, oder mit dem Fehlerhafter auch das Gesunde verändern, und so den trügerischen Schein von etwas an sich Erträglichen aber Unwahrem an die Stelle des offenbar Verkehrten setzen. Gesellen sich zu solchen ungeschickten Correctoren, die ihr Geschäft mit behaglichem Eiser aus¬ zudehnen Pflegen, noch die Ueberklugen, welche kein Bedenken tragen auch den Autor selbst gelegentlich zu verbessern, damit alles hübsch das Ansehen gewinne, welches ihrem Geschmack am meisten zusagt, so ist alle Gefahr da, daß allmä- lig eine falsche Schminke das echte und ursprüngliche Kunstwerk überzieht. Da fällt es denn der Kritik oft schwer, so weit festen Boden zu gewinnen, daß die entstellende Tünche der Restauration entfernt werde, damit nur die alten Fehler und Lücken wieder zum Vorschein kommen, an deren Heilung sie sich nur mit aller Vorsicht und Sorgfalt gewissenhafter Methode wagen kann. Glücklicherweise befindet sich der kritische Herausgeber Beethovens bei seiner Thätigkeit in einer verhältnißmäßig glücklichen Lage. Der Meister gehört einer Zeit an, deren Begebenheiten und Verhältnisse, deren Denkart und Em¬ pfindungsweise, deren künstlerische Auffassung und Darstellung wir uns im Wesentlichen nicht erst durch mühsame Forschung zu vergegenwärtigen haben, deren Anschauung und Verständniß uns unmittelbar klar ist, und nur im Ein¬ zelnen gelegentlich einer Nachhilfe durch detaillirtes Wissen bedarf. Und der Künstler selbst ist uns keine fremde Erscheinung, die wir durch einen künstlichen Apparat erst aus der Ferne in die Nähe rücken müssen, er ist uns gegenwärtig, wir leben mit ihm, ja er beherrscht uns, und wenn uns zu seinem Verständniß ja noch etwas mangelt, so liegt das nicht daran, daß er einer erst wieder zu belebenden Vergangenheit angehört, sondern daß er vorausgeschritten war, auch der kommenden Generation, die jetzt noch voll Verehrung zu dem höher stehenden aufschaut. Von diesem Meister sind dann so zahlreiche, so bedeutende Werke Verschiedener Richtungen und Entwickelungsstufen erhalten, daß es eindrin-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/355>, abgerufen am 04.07.2024.