Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

richtig ist. Allein wenn es sich um die Anwendung allgemeiner Grund¬
sätze auf ein Werk handelt, das einer bestimmten Zeit angehört, das von
einem bestimmten Individuum unter bestimmten Voraussetzungen
hervorgebracht ist, so muß auch jene allgemeine Kenntniß durch eingehende
historische Studien zu einer klaren Einsicht und einem sicheren Gefühl von
dem ausgebildet werden, was ein gegebenes Zeitalter, eine gegebene Per¬
sönlichkeit künstlerisch aufzufassen, und von der Form, in welcher sie dasselbe
wiederzugeben fähig sind. Wer nun mit so geschärftem Blick, mit sicherem Takt,
vertraut mit seinem Meister an die Prüfung derjenigen Stellen herantritt, in
welchen die Lesart nicht einstimmig überliefert ist, der wird im Stande sein
zu entscheiden, was unmöglich vom Autor herrühren könne, und was er
geschrieben haben könne, in vielen Fällen, was er geschrieben haben müsse,
in den meisten, was er wahrscheinlich geschrieben habe. Denn da es
sich um ein Kunstwerk handelt, bei'dessen Entstehen die geniale Sub-
jectivität des Künstlers als ein bis auf einen gewissen Grad unberechen¬
barer Factor wirkt, so daß die letzte Thätigkeit der Kritik wesentlich auf der
Abwägung der allgemein giltigen Gesetze und der berechtigten
Besonderheit des Künstlers gegeneinander beruht, da auch der Kritiker
nur bei einer eigenthümlichen Begabung sich die Bildung und den Tact
aneignen kann, welche die Bedingungen seiner Thätigkeit sind, so haftet an
diesen Operationen etwas Subjektives, welches namentlich für die feineren
Aufgaben und Resultate nicht eine so zu sagen mathematisch zwingende
Sicherheit ergiebt. Wer deshalb aber das kritische Verfahren als spielende
Willkür, die Resultate desselben als zufällige Einfälle betrachtet, der übersieht,
daß die allgemeinen Gesetze, unter denen überhaupt der menschliche Geist
arbeitet und schafft, auch über den Künstler und sein Kunstwerk eine zwingende
organisatorische Macht ausüben, daher auch als giltige Normen erkannt
werden können; daß es durch gewissenhafte historische Forschung möglich
wird, auch das freie Element des Individuellen in Zeiträumen und
Persönlichkeiten in so festen Umrissen zu erkennen, daß auch hierin das Gesetz¬
mäßige nachzuweisen ist, und daß durch die bewußte Regulirung beider
Potenzen sich eine kritische Methode bildet, mittelst welcher, es gelingt, das
Unsichere und Schwankende in möglichst enge Grenzen einzuschließen, in jedem
Falle aber von dem Sicheren und Festen bestimmt zu scheiden. Das leuchtet
ein, daß, je schwieriger und lückenhafter die historische Forschung, je unsicherer
und schwankender die Ueberlieferung ist, um so stärker das subjective Element
der Kritik hervortreten, das Ergebniß um so problematischer werden muß. Wenn
keine Urschrift mehr vorhanden ist, Abschriften und Drucke nicht unter
der Aufsicht des Autors entstanden, sondern durch längere Zeiträume hindurch
nach verschiedenen oder auch nach gar keinen Grundsätzen bald sorgfältiger bald


richtig ist. Allein wenn es sich um die Anwendung allgemeiner Grund¬
sätze auf ein Werk handelt, das einer bestimmten Zeit angehört, das von
einem bestimmten Individuum unter bestimmten Voraussetzungen
hervorgebracht ist, so muß auch jene allgemeine Kenntniß durch eingehende
historische Studien zu einer klaren Einsicht und einem sicheren Gefühl von
dem ausgebildet werden, was ein gegebenes Zeitalter, eine gegebene Per¬
sönlichkeit künstlerisch aufzufassen, und von der Form, in welcher sie dasselbe
wiederzugeben fähig sind. Wer nun mit so geschärftem Blick, mit sicherem Takt,
vertraut mit seinem Meister an die Prüfung derjenigen Stellen herantritt, in
welchen die Lesart nicht einstimmig überliefert ist, der wird im Stande sein
zu entscheiden, was unmöglich vom Autor herrühren könne, und was er
geschrieben haben könne, in vielen Fällen, was er geschrieben haben müsse,
in den meisten, was er wahrscheinlich geschrieben habe. Denn da es
sich um ein Kunstwerk handelt, bei'dessen Entstehen die geniale Sub-
jectivität des Künstlers als ein bis auf einen gewissen Grad unberechen¬
barer Factor wirkt, so daß die letzte Thätigkeit der Kritik wesentlich auf der
Abwägung der allgemein giltigen Gesetze und der berechtigten
Besonderheit des Künstlers gegeneinander beruht, da auch der Kritiker
nur bei einer eigenthümlichen Begabung sich die Bildung und den Tact
aneignen kann, welche die Bedingungen seiner Thätigkeit sind, so haftet an
diesen Operationen etwas Subjektives, welches namentlich für die feineren
Aufgaben und Resultate nicht eine so zu sagen mathematisch zwingende
Sicherheit ergiebt. Wer deshalb aber das kritische Verfahren als spielende
Willkür, die Resultate desselben als zufällige Einfälle betrachtet, der übersieht,
daß die allgemeinen Gesetze, unter denen überhaupt der menschliche Geist
arbeitet und schafft, auch über den Künstler und sein Kunstwerk eine zwingende
organisatorische Macht ausüben, daher auch als giltige Normen erkannt
werden können; daß es durch gewissenhafte historische Forschung möglich
wird, auch das freie Element des Individuellen in Zeiträumen und
Persönlichkeiten in so festen Umrissen zu erkennen, daß auch hierin das Gesetz¬
mäßige nachzuweisen ist, und daß durch die bewußte Regulirung beider
Potenzen sich eine kritische Methode bildet, mittelst welcher, es gelingt, das
Unsichere und Schwankende in möglichst enge Grenzen einzuschließen, in jedem
Falle aber von dem Sicheren und Festen bestimmt zu scheiden. Das leuchtet
ein, daß, je schwieriger und lückenhafter die historische Forschung, je unsicherer
und schwankender die Ueberlieferung ist, um so stärker das subjective Element
der Kritik hervortreten, das Ergebniß um so problematischer werden muß. Wenn
keine Urschrift mehr vorhanden ist, Abschriften und Drucke nicht unter
der Aufsicht des Autors entstanden, sondern durch längere Zeiträume hindurch
nach verschiedenen oder auch nach gar keinen Grundsätzen bald sorgfältiger bald


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0354" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/116820"/>
          <p xml:id="ID_1074" prev="#ID_1073" next="#ID_1075"> richtig ist. Allein wenn es sich um die Anwendung allgemeiner Grund¬<lb/>
sätze auf ein Werk handelt, das einer bestimmten Zeit angehört, das von<lb/>
einem bestimmten Individuum unter bestimmten Voraussetzungen<lb/>
hervorgebracht ist, so muß auch jene allgemeine Kenntniß durch eingehende<lb/>
historische Studien zu einer klaren Einsicht und einem sicheren Gefühl von<lb/>
dem ausgebildet werden, was ein gegebenes Zeitalter, eine gegebene Per¬<lb/>
sönlichkeit künstlerisch aufzufassen, und von der Form, in welcher sie dasselbe<lb/>
wiederzugeben fähig sind. Wer nun mit so geschärftem Blick, mit sicherem Takt,<lb/>
vertraut mit seinem Meister an die Prüfung derjenigen Stellen herantritt, in<lb/>
welchen die Lesart nicht einstimmig überliefert ist, der wird im Stande sein<lb/>
zu entscheiden, was unmöglich vom Autor herrühren könne, und was er<lb/>
geschrieben haben könne, in vielen Fällen, was er geschrieben haben müsse,<lb/>
in den meisten, was er wahrscheinlich geschrieben habe. Denn da es<lb/>
sich um ein Kunstwerk handelt, bei'dessen Entstehen die geniale Sub-<lb/>
jectivität des Künstlers als ein bis auf einen gewissen Grad unberechen¬<lb/>
barer Factor wirkt, so daß die letzte Thätigkeit der Kritik wesentlich auf der<lb/>
Abwägung der allgemein giltigen Gesetze und der berechtigten<lb/>
Besonderheit des Künstlers gegeneinander beruht, da auch der Kritiker<lb/>
nur bei einer eigenthümlichen Begabung sich die Bildung und den Tact<lb/>
aneignen kann, welche die Bedingungen seiner Thätigkeit sind, so haftet an<lb/>
diesen Operationen etwas Subjektives, welches namentlich für die feineren<lb/>
Aufgaben und Resultate nicht eine so zu sagen mathematisch zwingende<lb/>
Sicherheit ergiebt. Wer deshalb aber das kritische Verfahren als spielende<lb/>
Willkür, die Resultate desselben als zufällige Einfälle betrachtet, der übersieht,<lb/>
daß die allgemeinen Gesetze, unter denen überhaupt der menschliche Geist<lb/>
arbeitet und schafft, auch über den Künstler und sein Kunstwerk eine zwingende<lb/>
organisatorische Macht ausüben, daher auch als giltige Normen erkannt<lb/>
werden können; daß es durch gewissenhafte historische Forschung möglich<lb/>
wird, auch das freie Element des Individuellen in Zeiträumen und<lb/>
Persönlichkeiten in so festen Umrissen zu erkennen, daß auch hierin das Gesetz¬<lb/>
mäßige nachzuweisen ist, und daß durch die bewußte Regulirung beider<lb/>
Potenzen sich eine kritische Methode bildet, mittelst welcher, es gelingt, das<lb/>
Unsichere und Schwankende in möglichst enge Grenzen einzuschließen, in jedem<lb/>
Falle aber von dem Sicheren und Festen bestimmt zu scheiden. Das leuchtet<lb/>
ein, daß, je schwieriger und lückenhafter die historische Forschung, je unsicherer<lb/>
und schwankender die Ueberlieferung ist, um so stärker das subjective Element<lb/>
der Kritik hervortreten, das Ergebniß um so problematischer werden muß. Wenn<lb/>
keine Urschrift mehr vorhanden ist, Abschriften und Drucke nicht unter<lb/>
der Aufsicht des Autors entstanden, sondern durch längere Zeiträume hindurch<lb/>
nach verschiedenen oder auch nach gar keinen Grundsätzen bald sorgfältiger bald</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0354] richtig ist. Allein wenn es sich um die Anwendung allgemeiner Grund¬ sätze auf ein Werk handelt, das einer bestimmten Zeit angehört, das von einem bestimmten Individuum unter bestimmten Voraussetzungen hervorgebracht ist, so muß auch jene allgemeine Kenntniß durch eingehende historische Studien zu einer klaren Einsicht und einem sicheren Gefühl von dem ausgebildet werden, was ein gegebenes Zeitalter, eine gegebene Per¬ sönlichkeit künstlerisch aufzufassen, und von der Form, in welcher sie dasselbe wiederzugeben fähig sind. Wer nun mit so geschärftem Blick, mit sicherem Takt, vertraut mit seinem Meister an die Prüfung derjenigen Stellen herantritt, in welchen die Lesart nicht einstimmig überliefert ist, der wird im Stande sein zu entscheiden, was unmöglich vom Autor herrühren könne, und was er geschrieben haben könne, in vielen Fällen, was er geschrieben haben müsse, in den meisten, was er wahrscheinlich geschrieben habe. Denn da es sich um ein Kunstwerk handelt, bei'dessen Entstehen die geniale Sub- jectivität des Künstlers als ein bis auf einen gewissen Grad unberechen¬ barer Factor wirkt, so daß die letzte Thätigkeit der Kritik wesentlich auf der Abwägung der allgemein giltigen Gesetze und der berechtigten Besonderheit des Künstlers gegeneinander beruht, da auch der Kritiker nur bei einer eigenthümlichen Begabung sich die Bildung und den Tact aneignen kann, welche die Bedingungen seiner Thätigkeit sind, so haftet an diesen Operationen etwas Subjektives, welches namentlich für die feineren Aufgaben und Resultate nicht eine so zu sagen mathematisch zwingende Sicherheit ergiebt. Wer deshalb aber das kritische Verfahren als spielende Willkür, die Resultate desselben als zufällige Einfälle betrachtet, der übersieht, daß die allgemeinen Gesetze, unter denen überhaupt der menschliche Geist arbeitet und schafft, auch über den Künstler und sein Kunstwerk eine zwingende organisatorische Macht ausüben, daher auch als giltige Normen erkannt werden können; daß es durch gewissenhafte historische Forschung möglich wird, auch das freie Element des Individuellen in Zeiträumen und Persönlichkeiten in so festen Umrissen zu erkennen, daß auch hierin das Gesetz¬ mäßige nachzuweisen ist, und daß durch die bewußte Regulirung beider Potenzen sich eine kritische Methode bildet, mittelst welcher, es gelingt, das Unsichere und Schwankende in möglichst enge Grenzen einzuschließen, in jedem Falle aber von dem Sicheren und Festen bestimmt zu scheiden. Das leuchtet ein, daß, je schwieriger und lückenhafter die historische Forschung, je unsicherer und schwankender die Ueberlieferung ist, um so stärker das subjective Element der Kritik hervortreten, das Ergebniß um so problematischer werden muß. Wenn keine Urschrift mehr vorhanden ist, Abschriften und Drucke nicht unter der Aufsicht des Autors entstanden, sondern durch längere Zeiträume hindurch nach verschiedenen oder auch nach gar keinen Grundsätzen bald sorgfältiger bald

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/354
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/354>, abgerufen am 04.07.2024.