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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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Worte, "überall nur Zerstreuung in der Zerstreuung suchen", zu einem größeren
Ernst und zu gesteigerter Pflege des Bedeutenden scheel sehen, ja vielleicht die
gewohnten Räume meiden sollte, so würde der aufrichtige Beifall der Guten
dem Directorium hierfür Trost bieten, und für die etwaigen Lücken in der
Abonnentenzahl würde reichlicher Ersatz nicht fehlen.

Freilich hat es den Anschein, als ob diese Umgestaltung der Programme
mit großen Schwierigkeiten verknüpft wäre. Der räumlichen Hindernisse ist
schon gedacht worden, allein sie sind keineswegs die einzigen. Vor allem be¬
darf es hierzu größerer Chormittel, als bis jetzt zu Gebote stehen mögen.
Früher bestand zwischen der leipziger Singakademie und dem Gewandhaus eine
Uebereinkunft, nach welcher dieselbe die Choraufführungen übernahm, verstärkt
durch das Thomaner-Sängerchor, den akademischen Gesangverein und andern
"kunstgeübte Dilettanten". Dieses Verhältniß hat sich im Laufe der Zeit ge¬
lockert und dann ganz gelöst. Allein jetzt hat Kapellmeister Reinecke in richtiger
Erkenntniß des Bedürfnisses die Bildung und Leitung eines vorläufig nicht sehr
mitgliederrcichen Vereines übernommen, der seine Kräfte mit dankenswerther
Bereitwilligkeit dem Gewandhause zur Verfügung stellt, und dessen Leistungen
günstige Erwartungen für die Zukunft erwecken. Dieser Verein erscheint durch¬
aus dazu angethan, den Kern für einen größeren Chor zu bilden, dessen Zu¬
sammentreten durch eine vertrauende Appellation an das Publicum gefördert
werden dürfte, und dessen gefängliche Ausbildung wo möglich in den Händen
des bisherigen Dirigenten bleiben müßte. Fast alle Jahre zeigt es sich bei
Gelegenheit der Aufführung von Bachs Passivnsmufik am Charfreitage. daß in
Leipzig sich frische Kräfte, Lust und Liebe und Eifer genug finden, um hoffen
zu können, daß wenn ein Musikinstitut, auf das der Leipziger mit Recht stolz
ist, größere und bedeutendere Werke i" Angriff nehmen wollte, auch eine thä¬
tige Betheiligung des singenden Publicums stattfinden werde. So würde man
wohl auch erwarten dürfen, daß die leipziger jungen Damen, eine Art aristokra¬
tischer Zurückhaltung aufgebend, dem Beispiele anderer Städte folgen und sich
vor allem die mendelssohnsche Zeit ins Gedächtniß zurückrufen lassen werden,
wo es unter den leipziger Frauen und Mädchen für eine Ehre galt, zur Mit¬
wirkung aufgefordert zu werden.

Ein zweiter Uebelstand liegt in der Schwierigkeit, geeignete Vertreter der
Solopartien in diesen Aufführungen zu finden. Der wirklich tüchtigen, für
ernste Musik geschickten Concertsänger und Sängerinnen sind nicht,viele, und
die wenigen vorhandenen sind kostbar geworden in des Worts verwegenster Be¬
deutung. "Wollte man also," so argumentire man gemeiniglich, "für derartige
größere Aufführungen sich der ersten Gesangskräfte versichern, so würde dieses
Unternehmen mit einer unerträglichen Belastung des Budgets verknüpft sein,
welche zu großen Unzuträglichkeiten, zu verderblicher Sparsamkeit auf allen an-


Worte, „überall nur Zerstreuung in der Zerstreuung suchen", zu einem größeren
Ernst und zu gesteigerter Pflege des Bedeutenden scheel sehen, ja vielleicht die
gewohnten Räume meiden sollte, so würde der aufrichtige Beifall der Guten
dem Directorium hierfür Trost bieten, und für die etwaigen Lücken in der
Abonnentenzahl würde reichlicher Ersatz nicht fehlen.

Freilich hat es den Anschein, als ob diese Umgestaltung der Programme
mit großen Schwierigkeiten verknüpft wäre. Der räumlichen Hindernisse ist
schon gedacht worden, allein sie sind keineswegs die einzigen. Vor allem be¬
darf es hierzu größerer Chormittel, als bis jetzt zu Gebote stehen mögen.
Früher bestand zwischen der leipziger Singakademie und dem Gewandhaus eine
Uebereinkunft, nach welcher dieselbe die Choraufführungen übernahm, verstärkt
durch das Thomaner-Sängerchor, den akademischen Gesangverein und andern
„kunstgeübte Dilettanten". Dieses Verhältniß hat sich im Laufe der Zeit ge¬
lockert und dann ganz gelöst. Allein jetzt hat Kapellmeister Reinecke in richtiger
Erkenntniß des Bedürfnisses die Bildung und Leitung eines vorläufig nicht sehr
mitgliederrcichen Vereines übernommen, der seine Kräfte mit dankenswerther
Bereitwilligkeit dem Gewandhause zur Verfügung stellt, und dessen Leistungen
günstige Erwartungen für die Zukunft erwecken. Dieser Verein erscheint durch¬
aus dazu angethan, den Kern für einen größeren Chor zu bilden, dessen Zu¬
sammentreten durch eine vertrauende Appellation an das Publicum gefördert
werden dürfte, und dessen gefängliche Ausbildung wo möglich in den Händen
des bisherigen Dirigenten bleiben müßte. Fast alle Jahre zeigt es sich bei
Gelegenheit der Aufführung von Bachs Passivnsmufik am Charfreitage. daß in
Leipzig sich frische Kräfte, Lust und Liebe und Eifer genug finden, um hoffen
zu können, daß wenn ein Musikinstitut, auf das der Leipziger mit Recht stolz
ist, größere und bedeutendere Werke i» Angriff nehmen wollte, auch eine thä¬
tige Betheiligung des singenden Publicums stattfinden werde. So würde man
wohl auch erwarten dürfen, daß die leipziger jungen Damen, eine Art aristokra¬
tischer Zurückhaltung aufgebend, dem Beispiele anderer Städte folgen und sich
vor allem die mendelssohnsche Zeit ins Gedächtniß zurückrufen lassen werden,
wo es unter den leipziger Frauen und Mädchen für eine Ehre galt, zur Mit¬
wirkung aufgefordert zu werden.

Ein zweiter Uebelstand liegt in der Schwierigkeit, geeignete Vertreter der
Solopartien in diesen Aufführungen zu finden. Der wirklich tüchtigen, für
ernste Musik geschickten Concertsänger und Sängerinnen sind nicht,viele, und
die wenigen vorhandenen sind kostbar geworden in des Worts verwegenster Be¬
deutung. „Wollte man also," so argumentire man gemeiniglich, „für derartige
größere Aufführungen sich der ersten Gesangskräfte versichern, so würde dieses
Unternehmen mit einer unerträglichen Belastung des Budgets verknüpft sein,
welche zu großen Unzuträglichkeiten, zu verderblicher Sparsamkeit auf allen an-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/190>, abgerufen am 04.07.2024.