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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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mißhandeln lassen, darum habe ich Sie so erschreckt, und nun bitte ich Sie
inständig, führen Sie mich zu dem Herrn Pfarrer." -- "Kommen Sie."

Sie führte mich ins Hinterhaus eine Treppe hoch, wo ich den Pfarrer,
einen würdigen Mann von einigen fünfzig Jahren, im Bette fand. Ich ent¬
schuldigte mein Eindringen in seine friedliche Wohnung mit meiner Bedräng¬
nis, sagte ihm, daß ich ihm nicht zumuthen wolle, mich, einen Feind seines
Vaterlandes, auf die Dauer zu verbergen, ich bäte, dies nur so lange zu thun,
bis der Abend käme. Er möchte schon jetzt dem Maire wissen lassen, daß ein
feindlicher Offizier sich zu ihm geflüchtet, aber gebeten habe, des Abends durch
einen französischen Offizier abgeholt zu werden. "So," fügte ich hinzu, "be¬
gehen Sie keinen Verrath an Ihrem Vaterlande."

Er hatte mich ohne Unterbrechung angehört, dann sagte er: "Unter der
von Ihnen freimüthig ausgesprochenen Bedingung will ich Sie hier behalten
und vor den gefürchteten Mißhandlungen schützen." Es wurde heftig an die
Hausthüre gepocht. "Geh hinunter," sagte er, sich an das Mädchen wendend,
"und sieh, wer da ist. Laß aber niemand ein und antworte, wenn sie den
Offizier suchen, er sei hinten in den Garten hinausgcstürmt. Zeige ihnen allen¬
falls die Gelegenheit, aber vorher -- denn die Lärmer können warten -- führe
den Herrn hinauf zu der alten Madelaine." Zu mir gekehrt setzte er hinzu)
"Das ist eine alte neunzigjährige Person, die das Gnadenbrod erhält, da sie nicht
mehr arbeiten kann." Das Mädchen führte mich noch zwei Treppen höher in eine
Art Mansarde, wo ein vom Alter gebeugtes Mütterchen saß und spann. Die
Alte schien gar nicht erstaunt über diesen Besuch. Nachdem meine Führerin
ihr mit ein paar Worten das Verhältniß mitgetheilt, lief jene hinunter und
öffnete die Hausthür, was ich deutlich hören konnte. Ich ging nun geraume
Zeit stumm und verzweiflungsvoll in der Stube auf und ab. Endlich kam das
Mädchen wieder und fragte mich im Auftrage des Pfarrers, ob ich vielleicht
etwas genießen wolle.? Ich bat darum,, da ich noch nicht zu Mittag gegessen,
fügte aber hinzu, daß ich es nicht bezahlen könne, weil ich meine Börse in
meinem Quartier liegen -lassen. Sie brachte mir bald darauf eine sehr schöne
Omelette und eine Flasche Wein. Als sie das Geschirr wieder holte, bemerkte
sie. als ich die Pfeife im Munde in dem Stäbchen hin und her ging: "Die
Pfeife brennt ja nicht. Sie haben wohl keinen Tabak?" Auf mein Verneinen
sagte sie, sie wolle mir welchen bringen, und alsbald kam sie mit einem hal¬
ben Pfunde Tabak bester Qualität zurück. Diese große Freundlichkeit machte
den Wunsch in mir rege, ihr einen kleinen Beweis meiner Dankbarkeit zu geben.
Ich fragte sie, was sie eigentlich hier im Hause sei; sie erwiderte, sie sei die
Nichte des Pfarrers und pflege ihn jetzt, da er krank sei. Hierauf äußerte ich,
daß ich sowohl von dem Edelmuth des Pfarrers als von ihrer Freundlichkeit
innig gerührt sei und gar zu gern ihr ein Zeichen metner Dankbarkeit zurück-


mißhandeln lassen, darum habe ich Sie so erschreckt, und nun bitte ich Sie
inständig, führen Sie mich zu dem Herrn Pfarrer." — „Kommen Sie."

Sie führte mich ins Hinterhaus eine Treppe hoch, wo ich den Pfarrer,
einen würdigen Mann von einigen fünfzig Jahren, im Bette fand. Ich ent¬
schuldigte mein Eindringen in seine friedliche Wohnung mit meiner Bedräng¬
nis, sagte ihm, daß ich ihm nicht zumuthen wolle, mich, einen Feind seines
Vaterlandes, auf die Dauer zu verbergen, ich bäte, dies nur so lange zu thun,
bis der Abend käme. Er möchte schon jetzt dem Maire wissen lassen, daß ein
feindlicher Offizier sich zu ihm geflüchtet, aber gebeten habe, des Abends durch
einen französischen Offizier abgeholt zu werden. „So," fügte ich hinzu, „be¬
gehen Sie keinen Verrath an Ihrem Vaterlande."

Er hatte mich ohne Unterbrechung angehört, dann sagte er: „Unter der
von Ihnen freimüthig ausgesprochenen Bedingung will ich Sie hier behalten
und vor den gefürchteten Mißhandlungen schützen." Es wurde heftig an die
Hausthüre gepocht. „Geh hinunter," sagte er, sich an das Mädchen wendend,
„und sieh, wer da ist. Laß aber niemand ein und antworte, wenn sie den
Offizier suchen, er sei hinten in den Garten hinausgcstürmt. Zeige ihnen allen¬
falls die Gelegenheit, aber vorher — denn die Lärmer können warten — führe
den Herrn hinauf zu der alten Madelaine." Zu mir gekehrt setzte er hinzu)
„Das ist eine alte neunzigjährige Person, die das Gnadenbrod erhält, da sie nicht
mehr arbeiten kann." Das Mädchen führte mich noch zwei Treppen höher in eine
Art Mansarde, wo ein vom Alter gebeugtes Mütterchen saß und spann. Die
Alte schien gar nicht erstaunt über diesen Besuch. Nachdem meine Führerin
ihr mit ein paar Worten das Verhältniß mitgetheilt, lief jene hinunter und
öffnete die Hausthür, was ich deutlich hören konnte. Ich ging nun geraume
Zeit stumm und verzweiflungsvoll in der Stube auf und ab. Endlich kam das
Mädchen wieder und fragte mich im Auftrage des Pfarrers, ob ich vielleicht
etwas genießen wolle.? Ich bat darum,, da ich noch nicht zu Mittag gegessen,
fügte aber hinzu, daß ich es nicht bezahlen könne, weil ich meine Börse in
meinem Quartier liegen -lassen. Sie brachte mir bald darauf eine sehr schöne
Omelette und eine Flasche Wein. Als sie das Geschirr wieder holte, bemerkte
sie. als ich die Pfeife im Munde in dem Stäbchen hin und her ging: „Die
Pfeife brennt ja nicht. Sie haben wohl keinen Tabak?" Auf mein Verneinen
sagte sie, sie wolle mir welchen bringen, und alsbald kam sie mit einem hal¬
ben Pfunde Tabak bester Qualität zurück. Diese große Freundlichkeit machte
den Wunsch in mir rege, ihr einen kleinen Beweis meiner Dankbarkeit zu geben.
Ich fragte sie, was sie eigentlich hier im Hause sei; sie erwiderte, sie sei die
Nichte des Pfarrers und pflege ihn jetzt, da er krank sei. Hierauf äußerte ich,
daß ich sowohl von dem Edelmuth des Pfarrers als von ihrer Freundlichkeit
innig gerührt sei und gar zu gern ihr ein Zeichen metner Dankbarkeit zurück-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/120>, abgerufen am 24.07.2024.