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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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lung der Massen und Kräfte; sie handelt überall der haushälterischer Ordnung
zuwider, welche die Architektur nothwendig einhalten muß. Bald ein Zuviel, bald
ein Zuwenig; Kraftaufwand und Kraftersparniß immer an der unrechten Stelle.
Es fehlt durchaus jene "gegenseitige Spannung des Ganzen, worin Alles trägt
und getragen, hält und gehalten wird" (Vischer). -- Zudem sucht der neue
Stil, auf das Kolossale und Pomphafte gerichtet, durch einen falschen monu¬
mentalen Schein, durch große Dimensionen einzelner Gebäudctheile -- hohe
Arkaden, überstreckte Thore und Fenster u. s. w. -- über die innern Raum-
verhältnisse zu täuschen. Indem er bann doch in andern Theilen den beschei¬
denen Anforderungen, welche das heutige Leben an die Architektur stellt, sich
fügen muß und in der Ausstattung mit dem Kolossalen eine leere, kleinliche
Zierlichkeit verbindet, entsteht ein Ganzes von der abenteuerlichsten Mißgestalt.

Also keine structiven Formen, keine Wechselwirkung der Kräfte, keine Glie¬
derung, kein Verhältniß: so fehlt zum architektonischen Organismus geradezu
Alles. Damit gebricht es zugleich an allen Bedingungen zur eigentlichen Schön¬
heit der Baukunst. Hier ist schlechterdings keine Spur von einem Rhythmus
der Massen und Verhältnisse, von einem lebendigen Einklang sich treffender,
sich scheidender Formen, von dem satten, harmonischen Schein eines organisch
bewegten und doch streng gemessenen, festgefügten Lebens.

Was schließlich den Charakter dieser modernen Bauweise ausprägt, ist ihre
ebenso phantasielose als widersinnige Verwendung des Ornaments. Wo
weder Sinn für Schönheit noch Verständniß für das innere Leben des Baues
ist, da muß das Ornamentenspiel leer und bedeutungslos, albern und ab¬
geschmackt werden: eine Tändelei mit zusammengesuchtem Flitter, den sich die
herabgekommene Architektur auf ihr kahles, gesticktes Kleid näht. Von dem
Wesen des Ornaments hat die neue Straße keine Ahnung. Sie weiß nicht,
daß es die innere Dienstleistung des Gliedes, wie das Verhältniß der Glieder
untereinander in lebendigem Formenspicle Versinnlicht, daß es die bauende
Kraft des tektomschcn Körpers gleichsam ausklingen läßt in die heitere Gestalten¬
welt des Organischen oder in das phantasievoll verschlungene Spiel der Linie.
Daher gebraucht sie es als ausdruckslose Verzierung, welche der todten Masse
wie geliehener Schmuck angehängt wird. Daher auch, da sie das Ornament
in seinem eigenthümlichen Leben nicht fassen kann, kennt sie nur die armselig¬
sten Formen desselben, auch diese nur in roher, schablonenartiger Ausführung
und wird nicht müde, sie nach Belieben, wo es auch sei zu wiederholen. So
kommt es, daß das Ornament fast immer, statt die structive Leistung auszu¬
drücken, ihr vielmehr widerspricht. Der ganze Reiz aber der ornamentalen Aus¬
stattung geht auf diese Weise völlig verloren.

Und so besteht das ganze Princip des neuen Baustils, wenn hier von
einem Princip die Rede sein kann, in jener sinnlosen Lisencnordnung, in welche


lung der Massen und Kräfte; sie handelt überall der haushälterischer Ordnung
zuwider, welche die Architektur nothwendig einhalten muß. Bald ein Zuviel, bald
ein Zuwenig; Kraftaufwand und Kraftersparniß immer an der unrechten Stelle.
Es fehlt durchaus jene „gegenseitige Spannung des Ganzen, worin Alles trägt
und getragen, hält und gehalten wird" (Vischer). — Zudem sucht der neue
Stil, auf das Kolossale und Pomphafte gerichtet, durch einen falschen monu¬
mentalen Schein, durch große Dimensionen einzelner Gebäudctheile — hohe
Arkaden, überstreckte Thore und Fenster u. s. w. — über die innern Raum-
verhältnisse zu täuschen. Indem er bann doch in andern Theilen den beschei¬
denen Anforderungen, welche das heutige Leben an die Architektur stellt, sich
fügen muß und in der Ausstattung mit dem Kolossalen eine leere, kleinliche
Zierlichkeit verbindet, entsteht ein Ganzes von der abenteuerlichsten Mißgestalt.

Also keine structiven Formen, keine Wechselwirkung der Kräfte, keine Glie¬
derung, kein Verhältniß: so fehlt zum architektonischen Organismus geradezu
Alles. Damit gebricht es zugleich an allen Bedingungen zur eigentlichen Schön¬
heit der Baukunst. Hier ist schlechterdings keine Spur von einem Rhythmus
der Massen und Verhältnisse, von einem lebendigen Einklang sich treffender,
sich scheidender Formen, von dem satten, harmonischen Schein eines organisch
bewegten und doch streng gemessenen, festgefügten Lebens.

Was schließlich den Charakter dieser modernen Bauweise ausprägt, ist ihre
ebenso phantasielose als widersinnige Verwendung des Ornaments. Wo
weder Sinn für Schönheit noch Verständniß für das innere Leben des Baues
ist, da muß das Ornamentenspiel leer und bedeutungslos, albern und ab¬
geschmackt werden: eine Tändelei mit zusammengesuchtem Flitter, den sich die
herabgekommene Architektur auf ihr kahles, gesticktes Kleid näht. Von dem
Wesen des Ornaments hat die neue Straße keine Ahnung. Sie weiß nicht,
daß es die innere Dienstleistung des Gliedes, wie das Verhältniß der Glieder
untereinander in lebendigem Formenspicle Versinnlicht, daß es die bauende
Kraft des tektomschcn Körpers gleichsam ausklingen läßt in die heitere Gestalten¬
welt des Organischen oder in das phantasievoll verschlungene Spiel der Linie.
Daher gebraucht sie es als ausdruckslose Verzierung, welche der todten Masse
wie geliehener Schmuck angehängt wird. Daher auch, da sie das Ornament
in seinem eigenthümlichen Leben nicht fassen kann, kennt sie nur die armselig¬
sten Formen desselben, auch diese nur in roher, schablonenartiger Ausführung
und wird nicht müde, sie nach Belieben, wo es auch sei zu wiederholen. So
kommt es, daß das Ornament fast immer, statt die structive Leistung auszu¬
drücken, ihr vielmehr widerspricht. Der ganze Reiz aber der ornamentalen Aus¬
stattung geht auf diese Weise völlig verloren.

Und so besteht das ganze Princip des neuen Baustils, wenn hier von
einem Princip die Rede sein kann, in jener sinnlosen Lisencnordnung, in welche


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[0454] lung der Massen und Kräfte; sie handelt überall der haushälterischer Ordnung zuwider, welche die Architektur nothwendig einhalten muß. Bald ein Zuviel, bald ein Zuwenig; Kraftaufwand und Kraftersparniß immer an der unrechten Stelle. Es fehlt durchaus jene „gegenseitige Spannung des Ganzen, worin Alles trägt und getragen, hält und gehalten wird" (Vischer). — Zudem sucht der neue Stil, auf das Kolossale und Pomphafte gerichtet, durch einen falschen monu¬ mentalen Schein, durch große Dimensionen einzelner Gebäudctheile — hohe Arkaden, überstreckte Thore und Fenster u. s. w. — über die innern Raum- verhältnisse zu täuschen. Indem er bann doch in andern Theilen den beschei¬ denen Anforderungen, welche das heutige Leben an die Architektur stellt, sich fügen muß und in der Ausstattung mit dem Kolossalen eine leere, kleinliche Zierlichkeit verbindet, entsteht ein Ganzes von der abenteuerlichsten Mißgestalt. Also keine structiven Formen, keine Wechselwirkung der Kräfte, keine Glie¬ derung, kein Verhältniß: so fehlt zum architektonischen Organismus geradezu Alles. Damit gebricht es zugleich an allen Bedingungen zur eigentlichen Schön¬ heit der Baukunst. Hier ist schlechterdings keine Spur von einem Rhythmus der Massen und Verhältnisse, von einem lebendigen Einklang sich treffender, sich scheidender Formen, von dem satten, harmonischen Schein eines organisch bewegten und doch streng gemessenen, festgefügten Lebens. Was schließlich den Charakter dieser modernen Bauweise ausprägt, ist ihre ebenso phantasielose als widersinnige Verwendung des Ornaments. Wo weder Sinn für Schönheit noch Verständniß für das innere Leben des Baues ist, da muß das Ornamentenspiel leer und bedeutungslos, albern und ab¬ geschmackt werden: eine Tändelei mit zusammengesuchtem Flitter, den sich die herabgekommene Architektur auf ihr kahles, gesticktes Kleid näht. Von dem Wesen des Ornaments hat die neue Straße keine Ahnung. Sie weiß nicht, daß es die innere Dienstleistung des Gliedes, wie das Verhältniß der Glieder untereinander in lebendigem Formenspicle Versinnlicht, daß es die bauende Kraft des tektomschcn Körpers gleichsam ausklingen läßt in die heitere Gestalten¬ welt des Organischen oder in das phantasievoll verschlungene Spiel der Linie. Daher gebraucht sie es als ausdruckslose Verzierung, welche der todten Masse wie geliehener Schmuck angehängt wird. Daher auch, da sie das Ornament in seinem eigenthümlichen Leben nicht fassen kann, kennt sie nur die armselig¬ sten Formen desselben, auch diese nur in roher, schablonenartiger Ausführung und wird nicht müde, sie nach Belieben, wo es auch sei zu wiederholen. So kommt es, daß das Ornament fast immer, statt die structive Leistung auszu¬ drücken, ihr vielmehr widerspricht. Der ganze Reiz aber der ornamentalen Aus¬ stattung geht auf diese Weise völlig verloren. Und so besteht das ganze Princip des neuen Baustils, wenn hier von einem Princip die Rede sein kann, in jener sinnlosen Lisencnordnung, in welche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/454>, abgerufen am 20.10.2024.