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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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der Breite ihrer Bedürfnisse von der Erde Besitz nimmt und wagrecht ihren
Bau in Stockwerke theilt, am wenigsten entbehren, und hier wird das Vorbild
der Renaissance kaum zu umgehen sein. Die neue Bauweise aber, in ihrer
bornirten Abneigung gegen beide, Antike und Renaissance, wollte, so gut es
ging, ihre verhaßten Formen los werden, und doch ließ sich mit ihnen, da sie
eine innere Nothwendigkeit haben, nicht ganz brechen. Es galt also, sich mit
ihnen irgendwie abzufinden. Nur ein so verzwicktes Verhältniß kann die un¬
glaubliche Sinnlosigkeit ihrer Anwendung erklären. Man verdünnte die Profile
zu körperlosen Papierstreifen, zu schmächtigen Fadensträngen und zerriß ihre
fortlaufende Einheit, welche als die verbindende, den ganzen Bau umfassende
und zusammenhaltende Kraft ihr eigentliches Wesen ausmacht, zu einer Unzahl
abgeschnittener Fetzen, die man überdies nicht selten an den unrechten Stellen
anbrachte. Wo sich aber der fortlaufende Zusammenhang wie beim abschließen¬
den Kranzgesimse nicht vermeiden ließ, da wußte man ihren Charakter durch
die armseligste Magerkeit und die verkehrteste Anordnung der Glieder gleich
gründlich zu zerstören.

Und so entstand der widersinnigste Bau. Nirgends ein Gegensatz von
Linien, eine Gliederung, ein organisches Wachsen, nichts, was getragen
wird und keine tragenden Kräfte; überall nur eine zufällige Menge aufgerich¬
teter Mauerstreifen und dazwischen gestellter, beliebig angeordneter Füllungen.
Ein Bau, der ohne Abschluß in die Luft hinausfährt und dort von der Dach¬
linie abgeschnitten wird; der wie verschüttet aus der Erde heraussteht, denn
wie an der Krönung, so fehlt es am Unterbau. Ein solches Verwachsensein
mit dem Boden stand allenfalls dem Mittelalter an, das einerseits mit dunkler
Sinnlichkeit unfrei an der Erde haftete und andrerseits seine Spitzen ätherisch
in den Himmel streckte; eine Baukunst aber, die in einer Zeit entwickelter Bil¬
dung klar und entschieden für weltliche Zwecke thätig ist, bedarf der kräftigen
Basis, mit der sie ebenso sicher auf dem Boden ruht, als energisch sich von
ihm abhebt und zum Aufsteigen ansetzt. Und wie dieser Architektur Anfang
und Ende, so fehlt ihr auch in der Breitenausdehnung mit den umspannenden
Profilen die feste Anschließung: ein Windstoß, so scheint es, und der Bau fällt
nach allen Seiten auseinander. Endlich gebricht es dieser lose zusammen¬
gefügten Masse fast in allen Gebäuden am Centrum, an der vollen sicheren
Mitte, von der als dem Kern des Baues Leben und Gestaltung über das
Ganze sich zu verbreiten haben. Ein im festen Stein doppelt widriges Bild
der Unfertigkeit; ein Körper, der nur eine Richtung, die der Höhe, kennt, und
auch diese verkehrt in einem Nebeneinander falscher Formen ausspricht, der
Breite aber wie der Tiefe nach völlig gestaltlos ist.

Mit diesen Grundgesetzen der Gliederung mangelt zugleich der neuen Bau¬
weise alles Verhältniß. Sie hat keine Ahnung von der geregelten Vcrthei-


Grenzbotm II. 1863. 57

der Breite ihrer Bedürfnisse von der Erde Besitz nimmt und wagrecht ihren
Bau in Stockwerke theilt, am wenigsten entbehren, und hier wird das Vorbild
der Renaissance kaum zu umgehen sein. Die neue Bauweise aber, in ihrer
bornirten Abneigung gegen beide, Antike und Renaissance, wollte, so gut es
ging, ihre verhaßten Formen los werden, und doch ließ sich mit ihnen, da sie
eine innere Nothwendigkeit haben, nicht ganz brechen. Es galt also, sich mit
ihnen irgendwie abzufinden. Nur ein so verzwicktes Verhältniß kann die un¬
glaubliche Sinnlosigkeit ihrer Anwendung erklären. Man verdünnte die Profile
zu körperlosen Papierstreifen, zu schmächtigen Fadensträngen und zerriß ihre
fortlaufende Einheit, welche als die verbindende, den ganzen Bau umfassende
und zusammenhaltende Kraft ihr eigentliches Wesen ausmacht, zu einer Unzahl
abgeschnittener Fetzen, die man überdies nicht selten an den unrechten Stellen
anbrachte. Wo sich aber der fortlaufende Zusammenhang wie beim abschließen¬
den Kranzgesimse nicht vermeiden ließ, da wußte man ihren Charakter durch
die armseligste Magerkeit und die verkehrteste Anordnung der Glieder gleich
gründlich zu zerstören.

Und so entstand der widersinnigste Bau. Nirgends ein Gegensatz von
Linien, eine Gliederung, ein organisches Wachsen, nichts, was getragen
wird und keine tragenden Kräfte; überall nur eine zufällige Menge aufgerich¬
teter Mauerstreifen und dazwischen gestellter, beliebig angeordneter Füllungen.
Ein Bau, der ohne Abschluß in die Luft hinausfährt und dort von der Dach¬
linie abgeschnitten wird; der wie verschüttet aus der Erde heraussteht, denn
wie an der Krönung, so fehlt es am Unterbau. Ein solches Verwachsensein
mit dem Boden stand allenfalls dem Mittelalter an, das einerseits mit dunkler
Sinnlichkeit unfrei an der Erde haftete und andrerseits seine Spitzen ätherisch
in den Himmel streckte; eine Baukunst aber, die in einer Zeit entwickelter Bil¬
dung klar und entschieden für weltliche Zwecke thätig ist, bedarf der kräftigen
Basis, mit der sie ebenso sicher auf dem Boden ruht, als energisch sich von
ihm abhebt und zum Aufsteigen ansetzt. Und wie dieser Architektur Anfang
und Ende, so fehlt ihr auch in der Breitenausdehnung mit den umspannenden
Profilen die feste Anschließung: ein Windstoß, so scheint es, und der Bau fällt
nach allen Seiten auseinander. Endlich gebricht es dieser lose zusammen¬
gefügten Masse fast in allen Gebäuden am Centrum, an der vollen sicheren
Mitte, von der als dem Kern des Baues Leben und Gestaltung über das
Ganze sich zu verbreiten haben. Ein im festen Stein doppelt widriges Bild
der Unfertigkeit; ein Körper, der nur eine Richtung, die der Höhe, kennt, und
auch diese verkehrt in einem Nebeneinander falscher Formen ausspricht, der
Breite aber wie der Tiefe nach völlig gestaltlos ist.

Mit diesen Grundgesetzen der Gliederung mangelt zugleich der neuen Bau¬
weise alles Verhältniß. Sie hat keine Ahnung von der geregelten Vcrthei-


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[0453] der Breite ihrer Bedürfnisse von der Erde Besitz nimmt und wagrecht ihren Bau in Stockwerke theilt, am wenigsten entbehren, und hier wird das Vorbild der Renaissance kaum zu umgehen sein. Die neue Bauweise aber, in ihrer bornirten Abneigung gegen beide, Antike und Renaissance, wollte, so gut es ging, ihre verhaßten Formen los werden, und doch ließ sich mit ihnen, da sie eine innere Nothwendigkeit haben, nicht ganz brechen. Es galt also, sich mit ihnen irgendwie abzufinden. Nur ein so verzwicktes Verhältniß kann die un¬ glaubliche Sinnlosigkeit ihrer Anwendung erklären. Man verdünnte die Profile zu körperlosen Papierstreifen, zu schmächtigen Fadensträngen und zerriß ihre fortlaufende Einheit, welche als die verbindende, den ganzen Bau umfassende und zusammenhaltende Kraft ihr eigentliches Wesen ausmacht, zu einer Unzahl abgeschnittener Fetzen, die man überdies nicht selten an den unrechten Stellen anbrachte. Wo sich aber der fortlaufende Zusammenhang wie beim abschließen¬ den Kranzgesimse nicht vermeiden ließ, da wußte man ihren Charakter durch die armseligste Magerkeit und die verkehrteste Anordnung der Glieder gleich gründlich zu zerstören. Und so entstand der widersinnigste Bau. Nirgends ein Gegensatz von Linien, eine Gliederung, ein organisches Wachsen, nichts, was getragen wird und keine tragenden Kräfte; überall nur eine zufällige Menge aufgerich¬ teter Mauerstreifen und dazwischen gestellter, beliebig angeordneter Füllungen. Ein Bau, der ohne Abschluß in die Luft hinausfährt und dort von der Dach¬ linie abgeschnitten wird; der wie verschüttet aus der Erde heraussteht, denn wie an der Krönung, so fehlt es am Unterbau. Ein solches Verwachsensein mit dem Boden stand allenfalls dem Mittelalter an, das einerseits mit dunkler Sinnlichkeit unfrei an der Erde haftete und andrerseits seine Spitzen ätherisch in den Himmel streckte; eine Baukunst aber, die in einer Zeit entwickelter Bil¬ dung klar und entschieden für weltliche Zwecke thätig ist, bedarf der kräftigen Basis, mit der sie ebenso sicher auf dem Boden ruht, als energisch sich von ihm abhebt und zum Aufsteigen ansetzt. Und wie dieser Architektur Anfang und Ende, so fehlt ihr auch in der Breitenausdehnung mit den umspannenden Profilen die feste Anschließung: ein Windstoß, so scheint es, und der Bau fällt nach allen Seiten auseinander. Endlich gebricht es dieser lose zusammen¬ gefügten Masse fast in allen Gebäuden am Centrum, an der vollen sicheren Mitte, von der als dem Kern des Baues Leben und Gestaltung über das Ganze sich zu verbreiten haben. Ein im festen Stein doppelt widriges Bild der Unfertigkeit; ein Körper, der nur eine Richtung, die der Höhe, kennt, und auch diese verkehrt in einem Nebeneinander falscher Formen ausspricht, der Breite aber wie der Tiefe nach völlig gestaltlos ist. Mit diesen Grundgesetzen der Gliederung mangelt zugleich der neuen Bau¬ weise alles Verhältniß. Sie hat keine Ahnung von der geregelten Vcrthei- Grenzbotm II. 1863. 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/453>, abgerufen am 27.09.2024.