Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.nißvollen Einklang zu finden wissen, in den unsere Zeit die Kunst mit der So viel wenigstens hätten jene Baumeister -- wie viel sie von ihrem nißvollen Einklang zu finden wissen, in den unsere Zeit die Kunst mit der So viel wenigstens hätten jene Baumeister — wie viel sie von ihrem <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0374" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188401"/> <p xml:id="ID_1187" prev="#ID_1186"> nißvollen Einklang zu finden wissen, in den unsere Zeit die Kunst mit der<lb/> Zweckmäßigkeit und den statischen Gesetzen zu bringen hat? Denn daß es<lb/> eine absolute Verkehrtheit ist, so, wie diese Architekten nach dem Vorgange des<lb/> Programms, in der ernstesten und gemessensten aller Künste lediglich dem Reiz<lb/> der Neuheit nachzujagen, das wird sich dem Leser schon aus den allgemeinsten<lb/> Grundzügen der Architektur ergeben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1188" next="#ID_1189"> So viel wenigstens hätten jene Baumeister — wie viel sie von ihrem<lb/> eigenen Fach verstehen, wird sich später zeigen — aus der Geschichte wissen sollen,<lb/> daß noch kein Baustil fertig aus dem Hirn eines Einzelnen gesprungen ist.<lb/> Indem sich der Mensch in der Architektur inmitten der großen Welt seine eigene<lb/> kleine baut, um unabhängig von der Natur für sein ganzes physisches und<lb/> geistiges Leben den unentbehrlichen festen Grund und Raum zu haben, ist<lb/> naturgemäß jede Bauart nicht das Product eines Einzelnen, sondern immer<lb/> einer Gesellschaft, welche den Charakter ihres staatlichen Daseins, ihrer Cultur<lb/> und Gesittung je nach der Stufe ihrer geschichtlichen Entwickelung, so oder so,<lb/> immer aber unabsichtlich in ihren Bauten ausprägt. Und diese Gesellschaft<lb/> selbst ist keine fertige; sie durchläuft vielmehr auf- und abwärts eine Reihe<lb/> von Zuständen, und demgemäß, allmälig über ihre gewöhnlichen und höheren<lb/> Bedürfnisse sich klar werdend, entwickelt sie ihren Baustil. Andrerseits ent¬<lb/> spricht dieser stufenmäßigcn Ausbildung der langsame Gang, in welchem die<lb/> Baukunst ihrer eigenen Natur zufolge fortschreitet. Diese wurzelt in dem Boden<lb/> des realen Lebens, wie sie zugleich immer an die Gesetze des unorganischen<lb/> Stoffs gebunden bleibt. Und hier zeigt sich nun die eigenthümliche Weise ihrer<lb/> Entwickelung. Auf ihrer untersten Stufe nämlich, da sie nur dem gemeinen<lb/> Zweck der Nothdurft dient, findet sie blos die ersten und allgemeinsten Gesetze<lb/> der Materie und verfährt demnach nur nach den einfachsten structiven Geboten.<lb/> Allmälig, wie sie sich dann über das niedere Bedürfniß, einem höheren die¬<lb/> nend, erhebt, entbindet sie zugleich die im Stoff tiefer liegenden Gesetze. Und<lb/> so findet sie auf jeder Stufe ihrer Ausbildung für den neuen Bauzweck die<lb/> passende structivc Form. Indem aber der Bauzweck jedesmal nothwendig mit¬<lb/> bestimmt ist von der Weltanschauung des bauenden Volkes und der Weise seiner<lb/> Gesittung, wird sich in der Construction auch dieser Charakter auszuprägen<lb/> suchen; und daher zeigt sich schon hier, wie von selbst entstanden, ein wunder¬<lb/> barer Einklang zwischen den Gesetzen der Materie, dem Zweck des Baus und<lb/> der Stimmung des Zeitalters. So entsprach dem griechischen Leben und Wesen<lb/> die Säulen-, Architrav- und Giebelform, dem römischen die Verbindung derselben<lb/> mit dem Gewölbebau, dem mittelalterlichen der leicht ansteigende Spitzbogen<lb/> mit allen seinen Folgen. Nur durch ein allmäliges Vorrücken war jene ge¬<lb/> meinsame Entwickelung möglich, und nur durch jene Uebereinstimmung erklärt<lb/> sich, wie jede wahre Bauform mit wissenschaftlicher Genauigkeit die structiven</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0374]
nißvollen Einklang zu finden wissen, in den unsere Zeit die Kunst mit der
Zweckmäßigkeit und den statischen Gesetzen zu bringen hat? Denn daß es
eine absolute Verkehrtheit ist, so, wie diese Architekten nach dem Vorgange des
Programms, in der ernstesten und gemessensten aller Künste lediglich dem Reiz
der Neuheit nachzujagen, das wird sich dem Leser schon aus den allgemeinsten
Grundzügen der Architektur ergeben.
So viel wenigstens hätten jene Baumeister — wie viel sie von ihrem
eigenen Fach verstehen, wird sich später zeigen — aus der Geschichte wissen sollen,
daß noch kein Baustil fertig aus dem Hirn eines Einzelnen gesprungen ist.
Indem sich der Mensch in der Architektur inmitten der großen Welt seine eigene
kleine baut, um unabhängig von der Natur für sein ganzes physisches und
geistiges Leben den unentbehrlichen festen Grund und Raum zu haben, ist
naturgemäß jede Bauart nicht das Product eines Einzelnen, sondern immer
einer Gesellschaft, welche den Charakter ihres staatlichen Daseins, ihrer Cultur
und Gesittung je nach der Stufe ihrer geschichtlichen Entwickelung, so oder so,
immer aber unabsichtlich in ihren Bauten ausprägt. Und diese Gesellschaft
selbst ist keine fertige; sie durchläuft vielmehr auf- und abwärts eine Reihe
von Zuständen, und demgemäß, allmälig über ihre gewöhnlichen und höheren
Bedürfnisse sich klar werdend, entwickelt sie ihren Baustil. Andrerseits ent¬
spricht dieser stufenmäßigcn Ausbildung der langsame Gang, in welchem die
Baukunst ihrer eigenen Natur zufolge fortschreitet. Diese wurzelt in dem Boden
des realen Lebens, wie sie zugleich immer an die Gesetze des unorganischen
Stoffs gebunden bleibt. Und hier zeigt sich nun die eigenthümliche Weise ihrer
Entwickelung. Auf ihrer untersten Stufe nämlich, da sie nur dem gemeinen
Zweck der Nothdurft dient, findet sie blos die ersten und allgemeinsten Gesetze
der Materie und verfährt demnach nur nach den einfachsten structiven Geboten.
Allmälig, wie sie sich dann über das niedere Bedürfniß, einem höheren die¬
nend, erhebt, entbindet sie zugleich die im Stoff tiefer liegenden Gesetze. Und
so findet sie auf jeder Stufe ihrer Ausbildung für den neuen Bauzweck die
passende structivc Form. Indem aber der Bauzweck jedesmal nothwendig mit¬
bestimmt ist von der Weltanschauung des bauenden Volkes und der Weise seiner
Gesittung, wird sich in der Construction auch dieser Charakter auszuprägen
suchen; und daher zeigt sich schon hier, wie von selbst entstanden, ein wunder¬
barer Einklang zwischen den Gesetzen der Materie, dem Zweck des Baus und
der Stimmung des Zeitalters. So entsprach dem griechischen Leben und Wesen
die Säulen-, Architrav- und Giebelform, dem römischen die Verbindung derselben
mit dem Gewölbebau, dem mittelalterlichen der leicht ansteigende Spitzbogen
mit allen seinen Folgen. Nur durch ein allmäliges Vorrücken war jene ge¬
meinsame Entwickelung möglich, und nur durch jene Uebereinstimmung erklärt
sich, wie jede wahre Bauform mit wissenschaftlicher Genauigkeit die structiven
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