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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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liegt ihm aber besonders noch in der Auffassung der Arbeiter oder des vierten
Standes von dem sittlichen Zwecke des Staates. Die angebliche Idee der
Bourgeoisie vom Staate beschränkt sich nach Lassalle auf die Annahme, daß der
Staat jedem Einzelnen die ungehinderte Selbstbethätigung seiner Kräfte garan-
tiren müsse, mit andern Worten: der Staat habe keinen anderen Zweck als
die persönliche Freiheit des Einzelnen und sein Eigenthum zu schützen. Das
laufe, sagt er, einfach darauf hinaus, daß, wenn die Bourgeoisie ihr letztes
Wort sprechen wollte, sie gestehen müßte, nach diesem Gedanken sei der Staat,
wenn es keine Räuber und Diebe gäbe, überhaupt ganz überflüssig.

Dieser angebliche Bourgeoisstaat wäre nach Herrn Lassalle ein ausreichender,
sittlicher, wenn wir Alle gleich stark, gleich gescheidt, gleich gebildet und gleich
reich wären. Da das aber nicht der Fall, so führe dieser Staat in seinen
Konsequenzen zu einer tiefen Unsittlichkeit; denn er führe dazu, daß der Stär¬
kere den Schwächeren, der Klügere den weniger Kluge", der Reichere den
Aermeren aufhenke. Die sittliche Idee des Arbeiterstandes dagegen sei die, daß
die ungehinderte und freie Bethätigung der individuellen Kräfte durch das In¬
dividuum nicht ausreiche, sondern daß zu ihr in einem geordneten Gemein¬
wesen noch hinzutreten müßte: die Solidarität der Interessen, die Gemeinsam¬
keit und die Gegenseitigkeit der Entwickelung. Der Arbeiterstand habe durch
die Hilflosigkeit, in welcher sich seine Mitglieder als Einzelne befänden, den
tiefen Instinkt, daß die Bestimmung des Staates sein müßte, dem Einzelnen
durch Vereinigung Aller zu einer solchen Entwickelung zu verhelfen, wie sie ihm
als Einzelnem nicht ermöglicht sei.

Was bisher in der Entwickelung des Menschengeschlechts geschehen sei,
das sei Alles durch den Zwang der Umstände, durch die Natur der Dinge und
Wider den Willen der Menschen geschehen. Dem Staat, welcher unter der
Idee der Herrschaft des Arbeiterstandes errichtet werden solle, sei es vorbehalten,
aus freier Lust mit vollkommenster Konsequenz Alles zu vollbringen für die
Entwickelung der Menschheit, was bisher nur stückweis, in den dürftigsten Um"
rissen dem widerstrebenden Willen abgerungen worden. --

Wir meinen, Herr Lassalle hätte seine Rede ebenso gut hebräisch halten
können, als in dieser Sprache. Wer möchte bei der Lectüre der herausgehobnen
Sätze glauben, daß sie einem Publicum von Arbeitern vorgetragen wurden?
Wer möchte sich dabei nicht vielmehr daran erinnert finden, daß der Redner
vor einiger Zeit ein Buch über "Herakleitos den Dunkeln" herausgab? Ob
derselbe sich wohl vorher seine Leute angesehen hat, und ob er wohl eine
Ahnung davon hatte, wie es mit deren Begriffsvermögen beschaffen war? Ob
er wohl überhaupt eine klare Vorstellung von dem Charakter und Wesen unsres
Arbeiterstandes besaß? Wir denken: nein, und nun halte man dazu, daß das
Gerücht geht, Herr Lassalle habe den Wunsch gehegt, bei Gelegenheit einer


Grenzboten II. 1863. 42

liegt ihm aber besonders noch in der Auffassung der Arbeiter oder des vierten
Standes von dem sittlichen Zwecke des Staates. Die angebliche Idee der
Bourgeoisie vom Staate beschränkt sich nach Lassalle auf die Annahme, daß der
Staat jedem Einzelnen die ungehinderte Selbstbethätigung seiner Kräfte garan-
tiren müsse, mit andern Worten: der Staat habe keinen anderen Zweck als
die persönliche Freiheit des Einzelnen und sein Eigenthum zu schützen. Das
laufe, sagt er, einfach darauf hinaus, daß, wenn die Bourgeoisie ihr letztes
Wort sprechen wollte, sie gestehen müßte, nach diesem Gedanken sei der Staat,
wenn es keine Räuber und Diebe gäbe, überhaupt ganz überflüssig.

Dieser angebliche Bourgeoisstaat wäre nach Herrn Lassalle ein ausreichender,
sittlicher, wenn wir Alle gleich stark, gleich gescheidt, gleich gebildet und gleich
reich wären. Da das aber nicht der Fall, so führe dieser Staat in seinen
Konsequenzen zu einer tiefen Unsittlichkeit; denn er führe dazu, daß der Stär¬
kere den Schwächeren, der Klügere den weniger Kluge», der Reichere den
Aermeren aufhenke. Die sittliche Idee des Arbeiterstandes dagegen sei die, daß
die ungehinderte und freie Bethätigung der individuellen Kräfte durch das In¬
dividuum nicht ausreiche, sondern daß zu ihr in einem geordneten Gemein¬
wesen noch hinzutreten müßte: die Solidarität der Interessen, die Gemeinsam¬
keit und die Gegenseitigkeit der Entwickelung. Der Arbeiterstand habe durch
die Hilflosigkeit, in welcher sich seine Mitglieder als Einzelne befänden, den
tiefen Instinkt, daß die Bestimmung des Staates sein müßte, dem Einzelnen
durch Vereinigung Aller zu einer solchen Entwickelung zu verhelfen, wie sie ihm
als Einzelnem nicht ermöglicht sei.

Was bisher in der Entwickelung des Menschengeschlechts geschehen sei,
das sei Alles durch den Zwang der Umstände, durch die Natur der Dinge und
Wider den Willen der Menschen geschehen. Dem Staat, welcher unter der
Idee der Herrschaft des Arbeiterstandes errichtet werden solle, sei es vorbehalten,
aus freier Lust mit vollkommenster Konsequenz Alles zu vollbringen für die
Entwickelung der Menschheit, was bisher nur stückweis, in den dürftigsten Um«
rissen dem widerstrebenden Willen abgerungen worden. —

Wir meinen, Herr Lassalle hätte seine Rede ebenso gut hebräisch halten
können, als in dieser Sprache. Wer möchte bei der Lectüre der herausgehobnen
Sätze glauben, daß sie einem Publicum von Arbeitern vorgetragen wurden?
Wer möchte sich dabei nicht vielmehr daran erinnert finden, daß der Redner
vor einiger Zeit ein Buch über „Herakleitos den Dunkeln" herausgab? Ob
derselbe sich wohl vorher seine Leute angesehen hat, und ob er wohl eine
Ahnung davon hatte, wie es mit deren Begriffsvermögen beschaffen war? Ob
er wohl überhaupt eine klare Vorstellung von dem Charakter und Wesen unsres
Arbeiterstandes besaß? Wir denken: nein, und nun halte man dazu, daß das
Gerücht geht, Herr Lassalle habe den Wunsch gehegt, bei Gelegenheit einer


Grenzboten II. 1863. 42
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/333>, abgerufen am 20.10.2024.