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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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unterworfen und ausgebeutet habe. Es sei nun an der Zeit, daß besagter
vierter Stand zur Herrschaft gelange, in dessen Herzen kein Keim einer neuen
Bevorrechtung mehr enthalten sei, der daher gleichbedeutend sei mit dem
ganzen Menschengeschlechte. Seine Sache sei die Sache der gescnnmten Menschen,
seine Freiheit die der Menschheit selbst, seine Herrschaft die Herrschaft Aller.
Wer die Idee des Arbeiterstandes in diesem Sinne als das herrschende Prin¬
cip der Gesellschaft anrufe, der stoße nicht einen die Classen der Gesell¬
schaft trennenden Schrei aus, sondern einen Ruf der Versöhnung, der Einigung
und der Liebe, der selbst dann ein Ruf der Liebe bleiben werde, wenn er als
Schlachtruf des Volkes ertönte. Der herrschende Stand, die Bourgeoisie, ge¬
leitet von dem persönlichen Interesse seine Privilegien zu erhalten, stehe in
einer principiell feindlichen Stellung zu der Entwickelung des Volkes, zu dem
Umsichgreifen der Bildung und Wissenschaft, zu den Fortschritten der Cultur,
zu allen Athemzügen des geschichtlichen Lebens.

Dieser Gegensatz der höheren Stände zu der Culturentwickelung der Nation
sei es, welcher die hohe und nothwendige Unsittlichkeit derselben hervorrufe.
Dieses tägliche Sichwidcrsetzenmüssen allem Großen und Guten gegenüber,
dieses fortgesetzte Betrüben über das, was dennoch davon gelinge, dieses Sich-
freucn über dessen Mißlingen, dieses Hemmen und Nückgängigmachen jedes Fort¬
schrittes erzeuge für die Bourgeoisie ein Leben wie in Feindes Land, und dieser
Feind sei das eigene Volk und die sittliche Gemeinschaft mit ihm.

Nun müsse aber dieses feindselige Verhältniß verheimlicht, mit aller List
und mit künstlichen Vorhängen verkleidet und die Stimme des Gewissens über¬
tönt werden, gegen welche die Religion des eigenen Vortheils eingetauscht
werde. Natürlich bleibe an solchem Geschlechte auch nicht das geringste Gute
übrig, sondern Untergang aller sittlichen Elemente in der Leidenschaft des selbst¬
süchtigen Vortheils und der Genußsucht, Unempfänglichkeit und Widerwillen
gegen alles Schöne und Große sei die natürliche Folge.

"Dieser Gegensatz, meine Herren, des persönlichen Interesses und der
Culturentwickelung der Nation ist es, der bei den unteren Classen der Gesell¬
schaft zu ihrem Glücke fehlt", ruft der Prophet der neuen Sittlichkeit aus; und
daher falle mit der Entwickelung des gesammten Volkes, mit dem Siege der
Idee, mit dem Fortschritte der Cultur, mit dem Lebcnsprincip der Geschichte,
welches nichts Anderes als die Entwickelung der Freiheit sei, das persönliche
Interesse des Arbeiterstandes, die Verbesserung seiner Lage als Classe zusammen.
Mit andern Worten: die Sache der Arbeiter sei eben die Sache der Menschheit.

Das Mittel, welches Herr Lassalle^zur Verwirklichung der "Idee" des Ar¬
beiterstandes empfiehlt, ist das allgemeine Wahlrecht; die Berechtigung leitet er
aus dem sittlichen Einklang der Bestrebungen des Arbeiterstandes mit der Ent¬
wickelung der Cultur der Menschheit her, die Nothwendigkeit der Verwirklichung


unterworfen und ausgebeutet habe. Es sei nun an der Zeit, daß besagter
vierter Stand zur Herrschaft gelange, in dessen Herzen kein Keim einer neuen
Bevorrechtung mehr enthalten sei, der daher gleichbedeutend sei mit dem
ganzen Menschengeschlechte. Seine Sache sei die Sache der gescnnmten Menschen,
seine Freiheit die der Menschheit selbst, seine Herrschaft die Herrschaft Aller.
Wer die Idee des Arbeiterstandes in diesem Sinne als das herrschende Prin¬
cip der Gesellschaft anrufe, der stoße nicht einen die Classen der Gesell¬
schaft trennenden Schrei aus, sondern einen Ruf der Versöhnung, der Einigung
und der Liebe, der selbst dann ein Ruf der Liebe bleiben werde, wenn er als
Schlachtruf des Volkes ertönte. Der herrschende Stand, die Bourgeoisie, ge¬
leitet von dem persönlichen Interesse seine Privilegien zu erhalten, stehe in
einer principiell feindlichen Stellung zu der Entwickelung des Volkes, zu dem
Umsichgreifen der Bildung und Wissenschaft, zu den Fortschritten der Cultur,
zu allen Athemzügen des geschichtlichen Lebens.

Dieser Gegensatz der höheren Stände zu der Culturentwickelung der Nation
sei es, welcher die hohe und nothwendige Unsittlichkeit derselben hervorrufe.
Dieses tägliche Sichwidcrsetzenmüssen allem Großen und Guten gegenüber,
dieses fortgesetzte Betrüben über das, was dennoch davon gelinge, dieses Sich-
freucn über dessen Mißlingen, dieses Hemmen und Nückgängigmachen jedes Fort¬
schrittes erzeuge für die Bourgeoisie ein Leben wie in Feindes Land, und dieser
Feind sei das eigene Volk und die sittliche Gemeinschaft mit ihm.

Nun müsse aber dieses feindselige Verhältniß verheimlicht, mit aller List
und mit künstlichen Vorhängen verkleidet und die Stimme des Gewissens über¬
tönt werden, gegen welche die Religion des eigenen Vortheils eingetauscht
werde. Natürlich bleibe an solchem Geschlechte auch nicht das geringste Gute
übrig, sondern Untergang aller sittlichen Elemente in der Leidenschaft des selbst¬
süchtigen Vortheils und der Genußsucht, Unempfänglichkeit und Widerwillen
gegen alles Schöne und Große sei die natürliche Folge.

„Dieser Gegensatz, meine Herren, des persönlichen Interesses und der
Culturentwickelung der Nation ist es, der bei den unteren Classen der Gesell¬
schaft zu ihrem Glücke fehlt", ruft der Prophet der neuen Sittlichkeit aus; und
daher falle mit der Entwickelung des gesammten Volkes, mit dem Siege der
Idee, mit dem Fortschritte der Cultur, mit dem Lebcnsprincip der Geschichte,
welches nichts Anderes als die Entwickelung der Freiheit sei, das persönliche
Interesse des Arbeiterstandes, die Verbesserung seiner Lage als Classe zusammen.
Mit andern Worten: die Sache der Arbeiter sei eben die Sache der Menschheit.

Das Mittel, welches Herr Lassalle^zur Verwirklichung der „Idee" des Ar¬
beiterstandes empfiehlt, ist das allgemeine Wahlrecht; die Berechtigung leitet er
aus dem sittlichen Einklang der Bestrebungen des Arbeiterstandes mit der Ent¬
wickelung der Cultur der Menschheit her, die Nothwendigkeit der Verwirklichung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/332>, abgerufen am 27.09.2024.