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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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dauernden russischen Herrschst an der untern Donau Oestreich nicht nur die
centrifugalen Neigungen seiner bis jetzt noch' verhältnißmäßig ziemlich leicht zu
behandelnden slavischen Unterthanen maßlos gesteigert, sondern auel? das Feld
seines Einflusses auf eine für seine europäische Bedeutung geradezu vernichtende
Weise eingeschränkt sehen würde.

Somit befindet sich Oestreich der orientalischen Frage gegenüber in einer
höchst seltsamen Lage. Eine jede unbefangene Erwägung seiner wahren Interessen
weist Oestreich darauf hin, seine Herrschaft die Donau entlang bis an das
schwarze Meer zu verbreiten. Wegen seines Verhältnisses zu dem Nationalitäten-
systcm des untern Donaugebietes und wegen der russischen Rivalität ist es
aber nicht nur genöthigt, dieser Aufgabe fern zu bleiben, sondern es hat auch
aufs sorgfältigste jeden vorbereitenden Schritt zu vermeiden; ja es muß --
sonderbar sind die Verhältnisse verschoben -- alle seine Kräfte daran setzen, um
Zustände zu consolidiren, deren dauernde Befestigung es zu dem Range einer
alternden, jedes Wachsthums, jeder Verjüngung unfähigen Macht herab-
drücken würde. Setzen wir einen Augenblick die Möglichkeit, daß die Türkei
aus ihrer tiefen Zerrüttung zu neuer Lebenskraft sich erholte, so wäre kein
Zweifel, daß Oestreich mit der Türkei die Rollen tauschen, daß statt der tür¬
kischen die östreichische Frage der Gegenstand der europäischen Sorgen und
Hoffnungen würde. Nur weil eine Erstarkung der Türkei nicht im Gebiete der
Möglichkeit liegt, kann Oestreich ein türkenfreundiicher Staat sein. Ist aber
(und darüber ist wohl ganz Europa einig) eine wahrhafte Wiederbelebung der
Türkei nicht möglich, nun dann ist es auch unzweifelhaft, daß früher oder
später der durch die Eifersucht der Mächte künstlich zusammengehaltene Bö"
doch auseinanderfalten, daß die türkische Frage einmal zur Entscheidung kom¬
men muß. Dann tritt aber an Oestreich unabweislich die Schicksalsfrage
heran, ob es die Donaufürstenthümer Nußland freiwillig überlassen oder ihm
zum Kampfe um seine Großmachtstcllung entgegentreten soll. Wer das
jetzige politische System Oestreichs als fein und klug bewundert, geht von der
Voraussetzung aus, daß die Agonie der Türkei ein normaler, unbegrenzte Dauer
versprechender Zustand sei. Wer dagegen der Ansicht ist, daß auch auf dem
Gebiete des Völkerlebens jeder Todeskampf mit dem Tode enden muß, der kann
sich auch der Ueberzeugung nicht verschließen, daß es für die östreichische Po¬
litik die erste Pflicht ist, ein System aufzugeben, das auf einer irrigen Vor"
aussetzung beruht. Da aber die bisherige orientalische Politik Oestreichs nur
eine Consequenz seiner Gesammtpolitik ist, so ist eine Modification derselben
nur dann möglich, wenn das wiener Eabinet seine Beziehungen zu den euro¬
päischen Mächten in der Art umgestaltet, daß es seine ganze Kraft, ohne dre
Besorgniß vor einer feindlichen Diversion in seinen Flanken hegen zu müssen,
nach Osten richten kann. Es sind hierbei weniger die Beziehungen zu Oese-


dauernden russischen Herrschst an der untern Donau Oestreich nicht nur die
centrifugalen Neigungen seiner bis jetzt noch' verhältnißmäßig ziemlich leicht zu
behandelnden slavischen Unterthanen maßlos gesteigert, sondern auel? das Feld
seines Einflusses auf eine für seine europäische Bedeutung geradezu vernichtende
Weise eingeschränkt sehen würde.

Somit befindet sich Oestreich der orientalischen Frage gegenüber in einer
höchst seltsamen Lage. Eine jede unbefangene Erwägung seiner wahren Interessen
weist Oestreich darauf hin, seine Herrschaft die Donau entlang bis an das
schwarze Meer zu verbreiten. Wegen seines Verhältnisses zu dem Nationalitäten-
systcm des untern Donaugebietes und wegen der russischen Rivalität ist es
aber nicht nur genöthigt, dieser Aufgabe fern zu bleiben, sondern es hat auch
aufs sorgfältigste jeden vorbereitenden Schritt zu vermeiden; ja es muß —
sonderbar sind die Verhältnisse verschoben — alle seine Kräfte daran setzen, um
Zustände zu consolidiren, deren dauernde Befestigung es zu dem Range einer
alternden, jedes Wachsthums, jeder Verjüngung unfähigen Macht herab-
drücken würde. Setzen wir einen Augenblick die Möglichkeit, daß die Türkei
aus ihrer tiefen Zerrüttung zu neuer Lebenskraft sich erholte, so wäre kein
Zweifel, daß Oestreich mit der Türkei die Rollen tauschen, daß statt der tür¬
kischen die östreichische Frage der Gegenstand der europäischen Sorgen und
Hoffnungen würde. Nur weil eine Erstarkung der Türkei nicht im Gebiete der
Möglichkeit liegt, kann Oestreich ein türkenfreundiicher Staat sein. Ist aber
(und darüber ist wohl ganz Europa einig) eine wahrhafte Wiederbelebung der
Türkei nicht möglich, nun dann ist es auch unzweifelhaft, daß früher oder
später der durch die Eifersucht der Mächte künstlich zusammengehaltene Bö»
doch auseinanderfalten, daß die türkische Frage einmal zur Entscheidung kom¬
men muß. Dann tritt aber an Oestreich unabweislich die Schicksalsfrage
heran, ob es die Donaufürstenthümer Nußland freiwillig überlassen oder ihm
zum Kampfe um seine Großmachtstcllung entgegentreten soll. Wer das
jetzige politische System Oestreichs als fein und klug bewundert, geht von der
Voraussetzung aus, daß die Agonie der Türkei ein normaler, unbegrenzte Dauer
versprechender Zustand sei. Wer dagegen der Ansicht ist, daß auch auf dem
Gebiete des Völkerlebens jeder Todeskampf mit dem Tode enden muß, der kann
sich auch der Ueberzeugung nicht verschließen, daß es für die östreichische Po¬
litik die erste Pflicht ist, ein System aufzugeben, das auf einer irrigen Vor«
aussetzung beruht. Da aber die bisherige orientalische Politik Oestreichs nur
eine Consequenz seiner Gesammtpolitik ist, so ist eine Modification derselben
nur dann möglich, wenn das wiener Eabinet seine Beziehungen zu den euro¬
päischen Mächten in der Art umgestaltet, daß es seine ganze Kraft, ohne dre
Besorgniß vor einer feindlichen Diversion in seinen Flanken hegen zu müssen,
nach Osten richten kann. Es sind hierbei weniger die Beziehungen zu Oese-


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[0228] dauernden russischen Herrschst an der untern Donau Oestreich nicht nur die centrifugalen Neigungen seiner bis jetzt noch' verhältnißmäßig ziemlich leicht zu behandelnden slavischen Unterthanen maßlos gesteigert, sondern auel? das Feld seines Einflusses auf eine für seine europäische Bedeutung geradezu vernichtende Weise eingeschränkt sehen würde. Somit befindet sich Oestreich der orientalischen Frage gegenüber in einer höchst seltsamen Lage. Eine jede unbefangene Erwägung seiner wahren Interessen weist Oestreich darauf hin, seine Herrschaft die Donau entlang bis an das schwarze Meer zu verbreiten. Wegen seines Verhältnisses zu dem Nationalitäten- systcm des untern Donaugebietes und wegen der russischen Rivalität ist es aber nicht nur genöthigt, dieser Aufgabe fern zu bleiben, sondern es hat auch aufs sorgfältigste jeden vorbereitenden Schritt zu vermeiden; ja es muß — sonderbar sind die Verhältnisse verschoben — alle seine Kräfte daran setzen, um Zustände zu consolidiren, deren dauernde Befestigung es zu dem Range einer alternden, jedes Wachsthums, jeder Verjüngung unfähigen Macht herab- drücken würde. Setzen wir einen Augenblick die Möglichkeit, daß die Türkei aus ihrer tiefen Zerrüttung zu neuer Lebenskraft sich erholte, so wäre kein Zweifel, daß Oestreich mit der Türkei die Rollen tauschen, daß statt der tür¬ kischen die östreichische Frage der Gegenstand der europäischen Sorgen und Hoffnungen würde. Nur weil eine Erstarkung der Türkei nicht im Gebiete der Möglichkeit liegt, kann Oestreich ein türkenfreundiicher Staat sein. Ist aber (und darüber ist wohl ganz Europa einig) eine wahrhafte Wiederbelebung der Türkei nicht möglich, nun dann ist es auch unzweifelhaft, daß früher oder später der durch die Eifersucht der Mächte künstlich zusammengehaltene Bö» doch auseinanderfalten, daß die türkische Frage einmal zur Entscheidung kom¬ men muß. Dann tritt aber an Oestreich unabweislich die Schicksalsfrage heran, ob es die Donaufürstenthümer Nußland freiwillig überlassen oder ihm zum Kampfe um seine Großmachtstcllung entgegentreten soll. Wer das jetzige politische System Oestreichs als fein und klug bewundert, geht von der Voraussetzung aus, daß die Agonie der Türkei ein normaler, unbegrenzte Dauer versprechender Zustand sei. Wer dagegen der Ansicht ist, daß auch auf dem Gebiete des Völkerlebens jeder Todeskampf mit dem Tode enden muß, der kann sich auch der Ueberzeugung nicht verschließen, daß es für die östreichische Po¬ litik die erste Pflicht ist, ein System aufzugeben, das auf einer irrigen Vor« aussetzung beruht. Da aber die bisherige orientalische Politik Oestreichs nur eine Consequenz seiner Gesammtpolitik ist, so ist eine Modification derselben nur dann möglich, wenn das wiener Eabinet seine Beziehungen zu den euro¬ päischen Mächten in der Art umgestaltet, daß es seine ganze Kraft, ohne dre Besorgniß vor einer feindlichen Diversion in seinen Flanken hegen zu müssen, nach Osten richten kann. Es sind hierbei weniger die Beziehungen zu Oese-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/228>, abgerufen am 19.10.2024.