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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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einem Versteck hervor, hob sie auf seine Schulter und trug sie fort in da"
Königsschloß; das Lamm und der Hund folgten ihnen, und nach kurzer Zeit
vermählte sich der Prinz mit ihr.

Der König aber liebte seine Schwiegertochter so sehr, daß die Königin
neidisch wurde. Als daher der Prinz eines Tages ausgegangen war, und seine
Frau im Garten lustwandelte, befahl die Königin ihren Dienern, sie sollten
ihre Schwiegertochter nehmen und in einen Brunnen werfen. Die Diener
thaten, wie ihnen die Königin befohlen hatte, und warfen sie in den Brunnen.
Darauf kam der Prinz nach Hause und fragte seine Mutter: "Wo ist meine
Frau?" -- "Sie ist spazieren gegangen," war die Antwort. Darauf sagte die
Königin: "Jetzt, wo diese nicht mehr da ist, wollen wir auch das Lamm schlach¬
ten." -- "Das ist recht," sagten die Diener. Als das Lamm das hörte, lief
es zum Brunnen und klagte seiner Schwester: "Lieb Pulja! sie wollen mich
schlachten." -- "Schweig still, mein Herzchen! sie thun Dir nichts." Das
Lamm aber rief wiederum: "Lieb Pulja! sie wollen mich schlachten." -- "Sei
ruhig, sie schlachten Dich nicht." -- "Sie wetzen die Messer, lieb Pulja! --
Sie lausen mir nach und wollen mich sangen, lieb Pulja! -- Sie haben
mich gefangen und wollen mich schlachten, lieb Pulja!" -- Da rief diese aus
dem Brunnen: "Was kann ich Dir helfen? Du siehst, wo ich bin." -- Die
Diener aber brachten das Lamm zum Schlachten, und wie sie ihm das Messer
an die Kehle setzten, da betete die Pulja zu Gott und sprach: "Lieber Gott,
sie schlachten meinen Bruder, und ich sitze hier im Brunnen." Sogleich bekam
sie Kraft und sprang aus dem Brunnen, lief herzu und fand das Lamm mit
abgeschnittenem Halse. Da schrie und jammerte sie, sie sollten es loslassen,
aber es war zu spät, es war schon geschlachtet. "Mein Lamm!" rief Pulja,
"mein Lamm!" und klagte und schluchzte so sehr, daß der König selbst herbei¬
kam. Der sagte zu ihr: "Was willst Du ? Soll ich Dir ein gleiches von
Gold machen lassen? oder wie willst Du es sonst haben?" -- "Nein, nein!"
rief sie, "mein Lamm! mein. Lamm!" -- "Sei ruhig, Kind! was geschehen ist,
ist geschehen!"

Als die Diener es nun gebraten hatten, da sagten sie zu ihr: "Komm
her und setze Dich und iß mit." Die Pulja aber erwiderte: "Ich habe schon
gegessen; ich esse jetzt nicht noch einmal." -- "Komm doch, Liebe, komm!"
-- "Eßt, sage ich Euch, ich habe schon gegessen." -- Als sie nun vom Tische
aufstanden, sammelte Pulja alle Knochen, legte sie in einen Krug und begrub
sie in die Mitte des Gartens. Da aber, wo sie begraben waren, wuchs ein
ungeheuer großer Apfelbaum und trug einen goldenen Apfel, und Viele ver¬
suchten, ihn zu brechen; es gelang ihnen aber nicht, denn je näher sie ihm
kamen, desto höher stieg der Apfel.

Da sagte die Pulja zum Könige: "Alle seid ihr hingegangen und habt


Grenzboten I. 1863. 9

einem Versteck hervor, hob sie auf seine Schulter und trug sie fort in da«
Königsschloß; das Lamm und der Hund folgten ihnen, und nach kurzer Zeit
vermählte sich der Prinz mit ihr.

Der König aber liebte seine Schwiegertochter so sehr, daß die Königin
neidisch wurde. Als daher der Prinz eines Tages ausgegangen war, und seine
Frau im Garten lustwandelte, befahl die Königin ihren Dienern, sie sollten
ihre Schwiegertochter nehmen und in einen Brunnen werfen. Die Diener
thaten, wie ihnen die Königin befohlen hatte, und warfen sie in den Brunnen.
Darauf kam der Prinz nach Hause und fragte seine Mutter: „Wo ist meine
Frau?" — „Sie ist spazieren gegangen," war die Antwort. Darauf sagte die
Königin: „Jetzt, wo diese nicht mehr da ist, wollen wir auch das Lamm schlach¬
ten." — „Das ist recht," sagten die Diener. Als das Lamm das hörte, lief
es zum Brunnen und klagte seiner Schwester: „Lieb Pulja! sie wollen mich
schlachten." — „Schweig still, mein Herzchen! sie thun Dir nichts." Das
Lamm aber rief wiederum: „Lieb Pulja! sie wollen mich schlachten." — „Sei
ruhig, sie schlachten Dich nicht." — „Sie wetzen die Messer, lieb Pulja! —
Sie lausen mir nach und wollen mich sangen, lieb Pulja! — Sie haben
mich gefangen und wollen mich schlachten, lieb Pulja!" — Da rief diese aus
dem Brunnen: „Was kann ich Dir helfen? Du siehst, wo ich bin." — Die
Diener aber brachten das Lamm zum Schlachten, und wie sie ihm das Messer
an die Kehle setzten, da betete die Pulja zu Gott und sprach: „Lieber Gott,
sie schlachten meinen Bruder, und ich sitze hier im Brunnen." Sogleich bekam
sie Kraft und sprang aus dem Brunnen, lief herzu und fand das Lamm mit
abgeschnittenem Halse. Da schrie und jammerte sie, sie sollten es loslassen,
aber es war zu spät, es war schon geschlachtet. „Mein Lamm!" rief Pulja,
„mein Lamm!" und klagte und schluchzte so sehr, daß der König selbst herbei¬
kam. Der sagte zu ihr: „Was willst Du ? Soll ich Dir ein gleiches von
Gold machen lassen? oder wie willst Du es sonst haben?" — „Nein, nein!"
rief sie, „mein Lamm! mein. Lamm!" — „Sei ruhig, Kind! was geschehen ist,
ist geschehen!"

Als die Diener es nun gebraten hatten, da sagten sie zu ihr: „Komm
her und setze Dich und iß mit." Die Pulja aber erwiderte: „Ich habe schon
gegessen; ich esse jetzt nicht noch einmal." — „Komm doch, Liebe, komm!"
— „Eßt, sage ich Euch, ich habe schon gegessen." — Als sie nun vom Tische
aufstanden, sammelte Pulja alle Knochen, legte sie in einen Krug und begrub
sie in die Mitte des Gartens. Da aber, wo sie begraben waren, wuchs ein
ungeheuer großer Apfelbaum und trug einen goldenen Apfel, und Viele ver¬
suchten, ihn zu brechen; es gelang ihnen aber nicht, denn je näher sie ihm
kamen, desto höher stieg der Apfel.

Da sagte die Pulja zum Könige: „Alle seid ihr hingegangen und habt


Grenzboten I. 1863. 9
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/73>, abgerufen am 25.11.2024.