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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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Sie fällt zusammen mit dem Verschwinden der letzten noch übrigen germanischen
Kleinstaaten und bezeichnet ziemlich correct die Entstehung des westeuropäischen
Völkervereins, wie er sich bis in das achte Jahrhundert und mit Verhältniß-
mäßig geringen Veränderungen bis in die Neuzeit hinein erhalten hat. Im
Laufe des zweiten Drittels des sechsten Jahrhunderts waren nach einander
Thüringer, Burgunder, Vandalen, Ostgothen, Gepiden aus der Reihe der
selbständigen Völker gestrichen worden. 685 kam die Reihe an die Sueven:
durch ihre Unterwerfung und die im Anfange des nächsten Jahrhunderts all¬
mählich erfolgte Besetzung des von den Römern in Spanien wiedergewonnenen
Landes wurde die ganze pyrenäische Halbinsel in der Hand der Westgothen
vereinigt. In Britannien entschied sich um dieselbe Zeit der anderthalbhundert¬
jährige Kampf zwischen Britten und Sachsen mit der völligen Niederlage der
Ersteren und ihrer Beschränkung auf Cornwall, Wales und Cumberland; die
Jahre 585 und 587 sahen die Gründung der Reiche Mercia und Ostsachsen,
und damit den Abschluß der sogenannten angelsächsischen Heptarchie. Auch für
das Frankenreich ist diese Zeit ein Wendepunkt, wenn auch ir andrer Weise:
die lange Regierung Chiothars des Zweiten ist bemerkenswerth durch die letzte
selbständige Kraftäußerung des merovingischen Königthums, die Wiedervereini¬
gung von Austrasien mit Neustrien 613; dieses selbe Austrasien aber muß
der König schon 622 wieder an das Kind Dagobert überlassen, in dessen Namen
Pipin und Arnulf, die Stammväter des karolingischen Hauses, die Regierung
führen. Damit war die Machtfrage zwischen König und Majordomus im Prin¬
cip bereits entschieden.

Mit allen diesen bedeutsamen Veränderungen auf dem Gebiete des Staates
treffen nicht minder folgenreiche auf dem Gebiete der Kirche zusammen. Dieselbe
Wichtigkeit, welche in politischer Beziehung die Ausbreitung der Germanen
über das römische Reich hat, gebührt auf geistigem Gebiete der Entwickelung der
päpstlichen Macht. Der aber, welcher das Papstthum zuerst in weltgeschichtliche
Bahnen gelenkt hat, ist unbestritten Gregor der Große (590--604). Die¬
selbe Zeit besiegelte den Triumph des Katholicismus über den Arianismus
im Abendlande durch die Bekehrung der Westgothen (687) und Langobarden
(von 603 an). Endlich wurde damals die letzte der mit der Völkerwanderung
auf den Schauplatz getretenen deutschen Nationen, die noch heidnisch war, die
Angelsachsen, zum Christenthum bekehrt (596), und damit trat auch England
in die Reihe der Culturstaaten ein. Wir behaupten nach alledem zuversichtlich,
daß der Jahrhunderte lang vorbereitete Uebergang aus dem Alterthum in das
sogenannte Mittelalter sich im Abendlande in entscheidender Weise erst im
letzten Drittel des sechsten Jahrhunderts vollzogen hat.

Um zu zeigen, daß der Abschnitt mit dem Jahre 476 für das Morgenland
nicht blos bedeutungslos, sondern sinnlos ist, wäre jedes Wort zu viel. Der


Sie fällt zusammen mit dem Verschwinden der letzten noch übrigen germanischen
Kleinstaaten und bezeichnet ziemlich correct die Entstehung des westeuropäischen
Völkervereins, wie er sich bis in das achte Jahrhundert und mit Verhältniß-
mäßig geringen Veränderungen bis in die Neuzeit hinein erhalten hat. Im
Laufe des zweiten Drittels des sechsten Jahrhunderts waren nach einander
Thüringer, Burgunder, Vandalen, Ostgothen, Gepiden aus der Reihe der
selbständigen Völker gestrichen worden. 685 kam die Reihe an die Sueven:
durch ihre Unterwerfung und die im Anfange des nächsten Jahrhunderts all¬
mählich erfolgte Besetzung des von den Römern in Spanien wiedergewonnenen
Landes wurde die ganze pyrenäische Halbinsel in der Hand der Westgothen
vereinigt. In Britannien entschied sich um dieselbe Zeit der anderthalbhundert¬
jährige Kampf zwischen Britten und Sachsen mit der völligen Niederlage der
Ersteren und ihrer Beschränkung auf Cornwall, Wales und Cumberland; die
Jahre 585 und 587 sahen die Gründung der Reiche Mercia und Ostsachsen,
und damit den Abschluß der sogenannten angelsächsischen Heptarchie. Auch für
das Frankenreich ist diese Zeit ein Wendepunkt, wenn auch ir andrer Weise:
die lange Regierung Chiothars des Zweiten ist bemerkenswerth durch die letzte
selbständige Kraftäußerung des merovingischen Königthums, die Wiedervereini¬
gung von Austrasien mit Neustrien 613; dieses selbe Austrasien aber muß
der König schon 622 wieder an das Kind Dagobert überlassen, in dessen Namen
Pipin und Arnulf, die Stammväter des karolingischen Hauses, die Regierung
führen. Damit war die Machtfrage zwischen König und Majordomus im Prin¬
cip bereits entschieden.

Mit allen diesen bedeutsamen Veränderungen auf dem Gebiete des Staates
treffen nicht minder folgenreiche auf dem Gebiete der Kirche zusammen. Dieselbe
Wichtigkeit, welche in politischer Beziehung die Ausbreitung der Germanen
über das römische Reich hat, gebührt auf geistigem Gebiete der Entwickelung der
päpstlichen Macht. Der aber, welcher das Papstthum zuerst in weltgeschichtliche
Bahnen gelenkt hat, ist unbestritten Gregor der Große (590—604). Die¬
selbe Zeit besiegelte den Triumph des Katholicismus über den Arianismus
im Abendlande durch die Bekehrung der Westgothen (687) und Langobarden
(von 603 an). Endlich wurde damals die letzte der mit der Völkerwanderung
auf den Schauplatz getretenen deutschen Nationen, die noch heidnisch war, die
Angelsachsen, zum Christenthum bekehrt (596), und damit trat auch England
in die Reihe der Culturstaaten ein. Wir behaupten nach alledem zuversichtlich,
daß der Jahrhunderte lang vorbereitete Uebergang aus dem Alterthum in das
sogenannte Mittelalter sich im Abendlande in entscheidender Weise erst im
letzten Drittel des sechsten Jahrhunderts vollzogen hat.

Um zu zeigen, daß der Abschnitt mit dem Jahre 476 für das Morgenland
nicht blos bedeutungslos, sondern sinnlos ist, wäre jedes Wort zu viel. Der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/344>, abgerufen am 25.11.2024.