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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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gewesen waren, haben in Italien die heidnischgesinnten und illoyalen Langobarden
unter ungünstigen Verhältnissen in nur 200 Jahren in der glücklichsten Weise erfüllt.

Wir haben die Frage nach der Grenze zwischen alter und mittlerer Ge°
schichte bisher wesentlich unter dem römischen Gesichtspunkte erörtert; betrach¬
ten wir sie vom germanischen aus, so erscheint das übliche Jahr 476 noch
unglücklicher gewählt. Es ist allgemein anerkannt, daß die germanische Völker¬
wanderung das weltgeschichtliche Ereignis, ist, welches scharf genug den Ueber¬
gang aus der von den Römern vertretenen alten Zeit 'in die neue bezeichnet,
deren Träger in Europa die Germanen sind. Man sollte also billigerweise zur
Grenze entweder den Ausgangspunkt, oder den Endpunkt, oder ein Ereigniß aus
der Mitte derselben nehmen, das an Folgenschwere alle übrigen weit überragt. Bei
dem Jahre 37S ist es nicht nöthig länger zu verweilen, da es sich noch Niemandem
als Grenzjahr empfohlen hat und auch schwerlich empfehlen wird. Eine Thatsache,
die den Anforderungen der dritten Kategorie entspräche, ist noch nicht ausfindig
gemacht worden, aus dem einfachen Grunde, weil es keine gibt. Die Absetzung
des Romulus Augustulus, weit entfernt, eine solche zu sein, steht mit der großen
Völkerwanderung weder an sich noch in ihren Ursachen in einem andern als
einem sehr mittelbaren Zusammenhange. Die letzte Welle der germanischen
Völkerwanderung ist der Zug der Langobarden nach Italien. Darin besteht
seine große Bedeutung auch für die deutsche Welt und noch über diese hinaus.
Mit dem Wegzuge der Langobarden nimmt die Wanderung türkischer Völker,
die gleichzeitig mit der deutschen begonnen hatte und stoßweise das ganze
Mittelalter hindurch fortdauerte, ihren ungehemmten Fortgang gegen Westen.
Die Avaren und ihre Erben ergreifen von nun an dauernd Besitz von den
Ebenen Ungarns und Osteuropas, und gleichzeitig fangen auch die Slaven an,
sich aus dem Dunkel hervorzustehlen. Es läßt sich also nicht leicht ein Ereignis?
finden, welches für die Geschicke des Abendlandes epochemachender gewesen
Wäre, als die Eroberung Italiens durch die Langobarden. In dieser Hinsicht
hat sie schon Schlosser als zweckmäßigste Grenze zwischen Alterthum und
Mittelalter warm empfohlen, selbstverständlich ohne dem Schlendrian der Hand¬
bücher gegenüber damit das Geringste auszurichten.

Das einzige germanische Volk, bei dem eine wichtige politische Verände¬
rung ungefähr in dieselbe Zeit fällt wie das Ende des ravennatischen Kaiser¬
hauses, sind die Franken. Die große Bedeutung dieses Volkes für die eigentlich
deutsche Geschichte kann allein das zähe Festhalten an dem sonst so unpassenden
Endjahre 476 entschuldigen; dann sollte man aber ehrlich sein und es geradezu
durch das Jahr 486 ersetzen, an welches sich Chlodwigs Sieg über Syagrius
und die Erhebung der Franken zum herrschenden Volke in Gallien knüpfen.
Eine in ganz andrer Weise universelle Bedeutung darf die Zeit für sich in
Anspruch nehmen, der die Invasion Italiens durch die Langobarden angehört.


gewesen waren, haben in Italien die heidnischgesinnten und illoyalen Langobarden
unter ungünstigen Verhältnissen in nur 200 Jahren in der glücklichsten Weise erfüllt.

Wir haben die Frage nach der Grenze zwischen alter und mittlerer Ge°
schichte bisher wesentlich unter dem römischen Gesichtspunkte erörtert; betrach¬
ten wir sie vom germanischen aus, so erscheint das übliche Jahr 476 noch
unglücklicher gewählt. Es ist allgemein anerkannt, daß die germanische Völker¬
wanderung das weltgeschichtliche Ereignis, ist, welches scharf genug den Ueber¬
gang aus der von den Römern vertretenen alten Zeit 'in die neue bezeichnet,
deren Träger in Europa die Germanen sind. Man sollte also billigerweise zur
Grenze entweder den Ausgangspunkt, oder den Endpunkt, oder ein Ereigniß aus
der Mitte derselben nehmen, das an Folgenschwere alle übrigen weit überragt. Bei
dem Jahre 37S ist es nicht nöthig länger zu verweilen, da es sich noch Niemandem
als Grenzjahr empfohlen hat und auch schwerlich empfehlen wird. Eine Thatsache,
die den Anforderungen der dritten Kategorie entspräche, ist noch nicht ausfindig
gemacht worden, aus dem einfachen Grunde, weil es keine gibt. Die Absetzung
des Romulus Augustulus, weit entfernt, eine solche zu sein, steht mit der großen
Völkerwanderung weder an sich noch in ihren Ursachen in einem andern als
einem sehr mittelbaren Zusammenhange. Die letzte Welle der germanischen
Völkerwanderung ist der Zug der Langobarden nach Italien. Darin besteht
seine große Bedeutung auch für die deutsche Welt und noch über diese hinaus.
Mit dem Wegzuge der Langobarden nimmt die Wanderung türkischer Völker,
die gleichzeitig mit der deutschen begonnen hatte und stoßweise das ganze
Mittelalter hindurch fortdauerte, ihren ungehemmten Fortgang gegen Westen.
Die Avaren und ihre Erben ergreifen von nun an dauernd Besitz von den
Ebenen Ungarns und Osteuropas, und gleichzeitig fangen auch die Slaven an,
sich aus dem Dunkel hervorzustehlen. Es läßt sich also nicht leicht ein Ereignis?
finden, welches für die Geschicke des Abendlandes epochemachender gewesen
Wäre, als die Eroberung Italiens durch die Langobarden. In dieser Hinsicht
hat sie schon Schlosser als zweckmäßigste Grenze zwischen Alterthum und
Mittelalter warm empfohlen, selbstverständlich ohne dem Schlendrian der Hand¬
bücher gegenüber damit das Geringste auszurichten.

Das einzige germanische Volk, bei dem eine wichtige politische Verände¬
rung ungefähr in dieselbe Zeit fällt wie das Ende des ravennatischen Kaiser¬
hauses, sind die Franken. Die große Bedeutung dieses Volkes für die eigentlich
deutsche Geschichte kann allein das zähe Festhalten an dem sonst so unpassenden
Endjahre 476 entschuldigen; dann sollte man aber ehrlich sein und es geradezu
durch das Jahr 486 ersetzen, an welches sich Chlodwigs Sieg über Syagrius
und die Erhebung der Franken zum herrschenden Volke in Gallien knüpfen.
Eine in ganz andrer Weise universelle Bedeutung darf die Zeit für sich in
Anspruch nehmen, der die Invasion Italiens durch die Langobarden angehört.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/343>, abgerufen am 28.07.2024.