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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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schon im Januar 1795 ungestraft wagen, die dritte Theilung zu proclamiren,
und am 25. November unterzeichnete Stanislaus August zu Grodno die Ent¬
sagungsurkunde, Rußland nahm das Land bis an den Riemen und Bug,
2381 Quadratmeilen, Oestreich die 843 Quadratmeilen zwischen Pilica und
Bug, Preußen die übrigen 697 Quadratmeilen mit Warschau.

Es war ein furchtbares Trauerspiel, und die Lehre, weiche alle Völker aus
Polens Geschichte nehmen können, war theuer erkauft. Mit Wehmuth stehen
wir vor der Riesenleiche und schreiben ihr die Grabschrift:


Du bezwangst Dich, nicht des Russen,
Nicht des Austricrs Schwert, nicht des Preußen,
An Deiner Zwietracht bist Du verblutet.

Von Neuem kann ich den Ernst rühmen, mit dem die preußische Regie¬
rung ihre Schuldigkeit gegen ihre polnischen Unterthanen erfüllte, und an die
Reise Friedrich Wilhelm des Dritten durch die eroberten Provinzen sowie an
seine berühmte Cabinetsordre vom 10. Juli 1798 erinnern.

--- "Diese Gesetzlosigkeit und diese Willkür sind aufgehoben und ist
an deren Stelle die der preußischen Verfassung eigenthümliche Gleichheit vor
dem Gesetz getreten; der geringste Unterthan hat vor Mir und vor
dem Gesetze den Werth der Menschheit; er hat die Pflicht der Treue
und des Gehorsams gegen seinen Landesherr" und gegen seine Obrigkeit, und
wenn er diese beobachtet, so hat er "gleich dem Vornehmsten ein heiliges Recht
auf Schutz und Sicherheit seiner Person und seines Eigenthums."

Friedrich Wilhelm hatte keinen Dank von seinen neuen Unterthanen. Sie
fielen 1806 von ihm ab und Napoleon zu, demselben Napoleon, der, wie sein
Minister 1812 offen schrieb, keine Thorheiten im Kopfe hatte und sich der
Polen stets nur als Mittel bediente, sie nie als Hauptsache ansah. Der Kaiser
beraubte Preußen und errichtete das Herzogthum Warschau. (Unsre Eltern
haben uns viel von dem Heere brodlos gewordener sütpreußischer Beamten
erzählt, die damals die alten Provinzen überflutheten und zu geringer Freude
derselben in alle frei gewordenen Posten eingeschoben wurden.) Napoleon
durchzog das neue Herzogthum, und so glühend er die Preußen haßte, ward
er dennoch zu dem Geständniß genöthigt, daß ja hier alles Gute, Ordentliche,
Borschreitende diesen zu verdanken sei. Er gab dem von ihm restituirten Stück¬
chen Polen einen Herrscher, über dessen Unfähigkeit er offen zu Wybicki sprach
(vgl. dessen von Naczynski edule Memoiren). Es folgten acht Jahre, wo Auf¬
stand, Krieg, viermaliger Durchmarsch napoleonischer Heere die Arbeit der letzten
Jahrzehnte verdarben. Verarmt, ohne Handel, ohne Gewerbe, ohne Industrie,
ohne geregelte Ackerwirthschaft, ohne Cultur, kurz in materieller, wie in geisti-
ger Hinsicht tief gesunken, kehrte das freie Land 1815 unter die verhaßte preu-
ßische Herrschaft zurück.




Grenzboten I. 1863, 42

schon im Januar 1795 ungestraft wagen, die dritte Theilung zu proclamiren,
und am 25. November unterzeichnete Stanislaus August zu Grodno die Ent¬
sagungsurkunde, Rußland nahm das Land bis an den Riemen und Bug,
2381 Quadratmeilen, Oestreich die 843 Quadratmeilen zwischen Pilica und
Bug, Preußen die übrigen 697 Quadratmeilen mit Warschau.

Es war ein furchtbares Trauerspiel, und die Lehre, weiche alle Völker aus
Polens Geschichte nehmen können, war theuer erkauft. Mit Wehmuth stehen
wir vor der Riesenleiche und schreiben ihr die Grabschrift:


Du bezwangst Dich, nicht des Russen,
Nicht des Austricrs Schwert, nicht des Preußen,
An Deiner Zwietracht bist Du verblutet.

Von Neuem kann ich den Ernst rühmen, mit dem die preußische Regie¬
rung ihre Schuldigkeit gegen ihre polnischen Unterthanen erfüllte, und an die
Reise Friedrich Wilhelm des Dritten durch die eroberten Provinzen sowie an
seine berühmte Cabinetsordre vom 10. Juli 1798 erinnern.

--- „Diese Gesetzlosigkeit und diese Willkür sind aufgehoben und ist
an deren Stelle die der preußischen Verfassung eigenthümliche Gleichheit vor
dem Gesetz getreten; der geringste Unterthan hat vor Mir und vor
dem Gesetze den Werth der Menschheit; er hat die Pflicht der Treue
und des Gehorsams gegen seinen Landesherr» und gegen seine Obrigkeit, und
wenn er diese beobachtet, so hat er „gleich dem Vornehmsten ein heiliges Recht
auf Schutz und Sicherheit seiner Person und seines Eigenthums."

Friedrich Wilhelm hatte keinen Dank von seinen neuen Unterthanen. Sie
fielen 1806 von ihm ab und Napoleon zu, demselben Napoleon, der, wie sein
Minister 1812 offen schrieb, keine Thorheiten im Kopfe hatte und sich der
Polen stets nur als Mittel bediente, sie nie als Hauptsache ansah. Der Kaiser
beraubte Preußen und errichtete das Herzogthum Warschau. (Unsre Eltern
haben uns viel von dem Heere brodlos gewordener sütpreußischer Beamten
erzählt, die damals die alten Provinzen überflutheten und zu geringer Freude
derselben in alle frei gewordenen Posten eingeschoben wurden.) Napoleon
durchzog das neue Herzogthum, und so glühend er die Preußen haßte, ward
er dennoch zu dem Geständniß genöthigt, daß ja hier alles Gute, Ordentliche,
Borschreitende diesen zu verdanken sei. Er gab dem von ihm restituirten Stück¬
chen Polen einen Herrscher, über dessen Unfähigkeit er offen zu Wybicki sprach
(vgl. dessen von Naczynski edule Memoiren). Es folgten acht Jahre, wo Auf¬
stand, Krieg, viermaliger Durchmarsch napoleonischer Heere die Arbeit der letzten
Jahrzehnte verdarben. Verarmt, ohne Handel, ohne Gewerbe, ohne Industrie,
ohne geregelte Ackerwirthschaft, ohne Cultur, kurz in materieller, wie in geisti-
ger Hinsicht tief gesunken, kehrte das freie Land 1815 unter die verhaßte preu-
ßische Herrschaft zurück.




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[0337] schon im Januar 1795 ungestraft wagen, die dritte Theilung zu proclamiren, und am 25. November unterzeichnete Stanislaus August zu Grodno die Ent¬ sagungsurkunde, Rußland nahm das Land bis an den Riemen und Bug, 2381 Quadratmeilen, Oestreich die 843 Quadratmeilen zwischen Pilica und Bug, Preußen die übrigen 697 Quadratmeilen mit Warschau. Es war ein furchtbares Trauerspiel, und die Lehre, weiche alle Völker aus Polens Geschichte nehmen können, war theuer erkauft. Mit Wehmuth stehen wir vor der Riesenleiche und schreiben ihr die Grabschrift: Du bezwangst Dich, nicht des Russen, Nicht des Austricrs Schwert, nicht des Preußen, An Deiner Zwietracht bist Du verblutet. Von Neuem kann ich den Ernst rühmen, mit dem die preußische Regie¬ rung ihre Schuldigkeit gegen ihre polnischen Unterthanen erfüllte, und an die Reise Friedrich Wilhelm des Dritten durch die eroberten Provinzen sowie an seine berühmte Cabinetsordre vom 10. Juli 1798 erinnern. --- „Diese Gesetzlosigkeit und diese Willkür sind aufgehoben und ist an deren Stelle die der preußischen Verfassung eigenthümliche Gleichheit vor dem Gesetz getreten; der geringste Unterthan hat vor Mir und vor dem Gesetze den Werth der Menschheit; er hat die Pflicht der Treue und des Gehorsams gegen seinen Landesherr» und gegen seine Obrigkeit, und wenn er diese beobachtet, so hat er „gleich dem Vornehmsten ein heiliges Recht auf Schutz und Sicherheit seiner Person und seines Eigenthums." Friedrich Wilhelm hatte keinen Dank von seinen neuen Unterthanen. Sie fielen 1806 von ihm ab und Napoleon zu, demselben Napoleon, der, wie sein Minister 1812 offen schrieb, keine Thorheiten im Kopfe hatte und sich der Polen stets nur als Mittel bediente, sie nie als Hauptsache ansah. Der Kaiser beraubte Preußen und errichtete das Herzogthum Warschau. (Unsre Eltern haben uns viel von dem Heere brodlos gewordener sütpreußischer Beamten erzählt, die damals die alten Provinzen überflutheten und zu geringer Freude derselben in alle frei gewordenen Posten eingeschoben wurden.) Napoleon durchzog das neue Herzogthum, und so glühend er die Preußen haßte, ward er dennoch zu dem Geständniß genöthigt, daß ja hier alles Gute, Ordentliche, Borschreitende diesen zu verdanken sei. Er gab dem von ihm restituirten Stück¬ chen Polen einen Herrscher, über dessen Unfähigkeit er offen zu Wybicki sprach (vgl. dessen von Naczynski edule Memoiren). Es folgten acht Jahre, wo Auf¬ stand, Krieg, viermaliger Durchmarsch napoleonischer Heere die Arbeit der letzten Jahrzehnte verdarben. Verarmt, ohne Handel, ohne Gewerbe, ohne Industrie, ohne geregelte Ackerwirthschaft, ohne Cultur, kurz in materieller, wie in geisti- ger Hinsicht tief gesunken, kehrte das freie Land 1815 unter die verhaßte preu- ßische Herrschaft zurück. Grenzboten I. 1863, 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/337>, abgerufen am 22.11.2024.