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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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sprechen die Richtung neuer Eisenbahnen und die Reform der Volksschule
eingehender als die deutsche Frage. Hort man den richtigen Durchschnitts¬
menschen, so ist ihm der Nationalverein und der Refoimvercin, Kurhessen und
die preußische Vcrfassungskrisis gründlich verleidet, und vom Handelsvertrag
mag er vollends gar nichts wissen, der doch blos eine diabolische Erfindung
des Louis Napoleon ist, um Unfrieden und Zank unter die Deutschen selbst
auszusäen. Sieht man jedoch näher zu. so wird man bald erkennen, daß
solche mißgelaunte Stimmung blos davon rührt, daß man die großen politischen
Fragen, die Lebensfragen der Nation, die augenblicklich nirgends einen Aus¬
weg bieten, wohl abschütteln möchte, daß man sie aber nicht'los werden kann.
Sie sind lästig, weil man vergebens sich ihrer zu erwehren strebt. Mir wahrer
Zudringlichkeit kündigen sie jeden Augenblick ihr Dasein an. Wer auf der
Karte die piojectirten Eisenbahnen verfolgt, stößt sofort die Nase auf Preußen
und auf die freundliche Art des diplomatischen Verkehrs zwischen deutschen
Bundes- und Nachbarstaaten. Ueber den fatalen Handelsvertrag stolpert man
ohnedies jeden Augenblick, und wer beim Glase Wein sitzt, muß gefaßt sein,
daß ihn sein Nachbar über die Folgen der drohenden Concurrenz der französi¬
schen oder der östreichischen Weine ins Gespräch zieht. Sonst überließ man
solche Dinge getrost der Fürsorge der Regierung, ein thätiges Interesse beschränkte
sich auf die Kreise, welche zunächst betheiligt'waren. Heute hat sich das Inter¬
esse in alle Kreise verbreitet. Niemand kann sich der Discussion von Fragen
entziehen, welche gerade hier schärfer als irgendwo in altgewohnte Anschauungen,
in festgewurzelte Parteivevhältnisse einschneiden, die aber andrerseits auch zu
einigen berufen sind, was bisher durch Gewohnheit, Vorurtheile und pro-
vincielle Absonderung getrennt war.

Gerade bei der Enge der Verhältnisse in dieser südwestlichen Ecke des
Vaterlands, wo die gegnerischen Elemente zugleich jeden Augenblick persönlich
auf einander stoßen, hat der politische Kampf eine herbere Form angenommen,
als in anderen Gegenden, wo entweder die Einheit des politischen Bewußtseins
durch jene Parteikämpfe kaum berührt ist, oder die größeren Verhältnisse auch
der Debatte eine weitere Arena gewähren. Hier dagegen sind alte Freund¬
schaften, durch gemeinsame Erfahrungen und Verfolgungen gekräftigt, unerbitt¬
lich auseinandergefallen, indeß man gleichzeitig langjährige politische Feinde sich
zu gemeinsamen Zwecken verbinden sieht. Es ist eine Zerklüftung gerade unter
den liberalen Parteien eingerissen, die zunächst sich sehr unerquicklich ansieht,
und über welche vielleicht jene Staatsmänner, welche sich von schutzzöllnerischen
Demokraten den Dank sür ihre "nationale" Haltung Votiren lassen, eine innige
Freude empfinden. Allein diese Zerklüftung ist doch nur das Symptom einer
heilsamen Krisis, ein nothwendiger Uebergangszustand. Denn gerade dies
Macht die Nachwirkung der eßlinger Versammlung so bedeutend, daß durch sie
der landsmannschaftliche Charakter, den bisher die liberale Partei in Schwaben
"ut Zähigkeit festhielt, gründlich erschüttert wurde, daß in den Streitigkeiten,
welche zu den Beschlüssen vom 14. Den. v. I. führten, das spröde schwäbische
Naturell aufthaute gegen die allgemein nationalen Ideen. Bei einem solchen
Proceß geht es nicht ab ohne Schmerzen. Sie sind um so fühlbarer, je we¬
niger ungetrübt die Freude an dem neugewonnenen ist, das man eingetauscht
hat gegen altes Liebgewordenes.

Es wird sich Gelegenheit finden, auf die Wirkung zurückzukommen, welche
°>e eßlinger Versammlung auf die Stellung Schwabens zur deutschen Frage
ausgeübt' hat und noch ausübt. Inzwischen ist es die Agitation für und gegen
den Handelsvertrag, welche noch immer im Vordergrund'steht.

Im Grunde ist es dieselbe Bewegung, die schon im Jahr 1833 vor


sprechen die Richtung neuer Eisenbahnen und die Reform der Volksschule
eingehender als die deutsche Frage. Hort man den richtigen Durchschnitts¬
menschen, so ist ihm der Nationalverein und der Refoimvercin, Kurhessen und
die preußische Vcrfassungskrisis gründlich verleidet, und vom Handelsvertrag
mag er vollends gar nichts wissen, der doch blos eine diabolische Erfindung
des Louis Napoleon ist, um Unfrieden und Zank unter die Deutschen selbst
auszusäen. Sieht man jedoch näher zu. so wird man bald erkennen, daß
solche mißgelaunte Stimmung blos davon rührt, daß man die großen politischen
Fragen, die Lebensfragen der Nation, die augenblicklich nirgends einen Aus¬
weg bieten, wohl abschütteln möchte, daß man sie aber nicht'los werden kann.
Sie sind lästig, weil man vergebens sich ihrer zu erwehren strebt. Mir wahrer
Zudringlichkeit kündigen sie jeden Augenblick ihr Dasein an. Wer auf der
Karte die piojectirten Eisenbahnen verfolgt, stößt sofort die Nase auf Preußen
und auf die freundliche Art des diplomatischen Verkehrs zwischen deutschen
Bundes- und Nachbarstaaten. Ueber den fatalen Handelsvertrag stolpert man
ohnedies jeden Augenblick, und wer beim Glase Wein sitzt, muß gefaßt sein,
daß ihn sein Nachbar über die Folgen der drohenden Concurrenz der französi¬
schen oder der östreichischen Weine ins Gespräch zieht. Sonst überließ man
solche Dinge getrost der Fürsorge der Regierung, ein thätiges Interesse beschränkte
sich auf die Kreise, welche zunächst betheiligt'waren. Heute hat sich das Inter¬
esse in alle Kreise verbreitet. Niemand kann sich der Discussion von Fragen
entziehen, welche gerade hier schärfer als irgendwo in altgewohnte Anschauungen,
in festgewurzelte Parteivevhältnisse einschneiden, die aber andrerseits auch zu
einigen berufen sind, was bisher durch Gewohnheit, Vorurtheile und pro-
vincielle Absonderung getrennt war.

Gerade bei der Enge der Verhältnisse in dieser südwestlichen Ecke des
Vaterlands, wo die gegnerischen Elemente zugleich jeden Augenblick persönlich
auf einander stoßen, hat der politische Kampf eine herbere Form angenommen,
als in anderen Gegenden, wo entweder die Einheit des politischen Bewußtseins
durch jene Parteikämpfe kaum berührt ist, oder die größeren Verhältnisse auch
der Debatte eine weitere Arena gewähren. Hier dagegen sind alte Freund¬
schaften, durch gemeinsame Erfahrungen und Verfolgungen gekräftigt, unerbitt¬
lich auseinandergefallen, indeß man gleichzeitig langjährige politische Feinde sich
zu gemeinsamen Zwecken verbinden sieht. Es ist eine Zerklüftung gerade unter
den liberalen Parteien eingerissen, die zunächst sich sehr unerquicklich ansieht,
und über welche vielleicht jene Staatsmänner, welche sich von schutzzöllnerischen
Demokraten den Dank sür ihre „nationale" Haltung Votiren lassen, eine innige
Freude empfinden. Allein diese Zerklüftung ist doch nur das Symptom einer
heilsamen Krisis, ein nothwendiger Uebergangszustand. Denn gerade dies
Macht die Nachwirkung der eßlinger Versammlung so bedeutend, daß durch sie
der landsmannschaftliche Charakter, den bisher die liberale Partei in Schwaben
»ut Zähigkeit festhielt, gründlich erschüttert wurde, daß in den Streitigkeiten,
welche zu den Beschlüssen vom 14. Den. v. I. führten, das spröde schwäbische
Naturell aufthaute gegen die allgemein nationalen Ideen. Bei einem solchen
Proceß geht es nicht ab ohne Schmerzen. Sie sind um so fühlbarer, je we¬
niger ungetrübt die Freude an dem neugewonnenen ist, das man eingetauscht
hat gegen altes Liebgewordenes.

Es wird sich Gelegenheit finden, auf die Wirkung zurückzukommen, welche
°>e eßlinger Versammlung auf die Stellung Schwabens zur deutschen Frage
ausgeübt' hat und noch ausübt. Inzwischen ist es die Agitation für und gegen
den Handelsvertrag, welche noch immer im Vordergrund'steht.

Im Grunde ist es dieselbe Bewegung, die schon im Jahr 1833 vor


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[0325] sprechen die Richtung neuer Eisenbahnen und die Reform der Volksschule eingehender als die deutsche Frage. Hort man den richtigen Durchschnitts¬ menschen, so ist ihm der Nationalverein und der Refoimvercin, Kurhessen und die preußische Vcrfassungskrisis gründlich verleidet, und vom Handelsvertrag mag er vollends gar nichts wissen, der doch blos eine diabolische Erfindung des Louis Napoleon ist, um Unfrieden und Zank unter die Deutschen selbst auszusäen. Sieht man jedoch näher zu. so wird man bald erkennen, daß solche mißgelaunte Stimmung blos davon rührt, daß man die großen politischen Fragen, die Lebensfragen der Nation, die augenblicklich nirgends einen Aus¬ weg bieten, wohl abschütteln möchte, daß man sie aber nicht'los werden kann. Sie sind lästig, weil man vergebens sich ihrer zu erwehren strebt. Mir wahrer Zudringlichkeit kündigen sie jeden Augenblick ihr Dasein an. Wer auf der Karte die piojectirten Eisenbahnen verfolgt, stößt sofort die Nase auf Preußen und auf die freundliche Art des diplomatischen Verkehrs zwischen deutschen Bundes- und Nachbarstaaten. Ueber den fatalen Handelsvertrag stolpert man ohnedies jeden Augenblick, und wer beim Glase Wein sitzt, muß gefaßt sein, daß ihn sein Nachbar über die Folgen der drohenden Concurrenz der französi¬ schen oder der östreichischen Weine ins Gespräch zieht. Sonst überließ man solche Dinge getrost der Fürsorge der Regierung, ein thätiges Interesse beschränkte sich auf die Kreise, welche zunächst betheiligt'waren. Heute hat sich das Inter¬ esse in alle Kreise verbreitet. Niemand kann sich der Discussion von Fragen entziehen, welche gerade hier schärfer als irgendwo in altgewohnte Anschauungen, in festgewurzelte Parteivevhältnisse einschneiden, die aber andrerseits auch zu einigen berufen sind, was bisher durch Gewohnheit, Vorurtheile und pro- vincielle Absonderung getrennt war. Gerade bei der Enge der Verhältnisse in dieser südwestlichen Ecke des Vaterlands, wo die gegnerischen Elemente zugleich jeden Augenblick persönlich auf einander stoßen, hat der politische Kampf eine herbere Form angenommen, als in anderen Gegenden, wo entweder die Einheit des politischen Bewußtseins durch jene Parteikämpfe kaum berührt ist, oder die größeren Verhältnisse auch der Debatte eine weitere Arena gewähren. Hier dagegen sind alte Freund¬ schaften, durch gemeinsame Erfahrungen und Verfolgungen gekräftigt, unerbitt¬ lich auseinandergefallen, indeß man gleichzeitig langjährige politische Feinde sich zu gemeinsamen Zwecken verbinden sieht. Es ist eine Zerklüftung gerade unter den liberalen Parteien eingerissen, die zunächst sich sehr unerquicklich ansieht, und über welche vielleicht jene Staatsmänner, welche sich von schutzzöllnerischen Demokraten den Dank sür ihre „nationale" Haltung Votiren lassen, eine innige Freude empfinden. Allein diese Zerklüftung ist doch nur das Symptom einer heilsamen Krisis, ein nothwendiger Uebergangszustand. Denn gerade dies Macht die Nachwirkung der eßlinger Versammlung so bedeutend, daß durch sie der landsmannschaftliche Charakter, den bisher die liberale Partei in Schwaben »ut Zähigkeit festhielt, gründlich erschüttert wurde, daß in den Streitigkeiten, welche zu den Beschlüssen vom 14. Den. v. I. führten, das spröde schwäbische Naturell aufthaute gegen die allgemein nationalen Ideen. Bei einem solchen Proceß geht es nicht ab ohne Schmerzen. Sie sind um so fühlbarer, je we¬ niger ungetrübt die Freude an dem neugewonnenen ist, das man eingetauscht hat gegen altes Liebgewordenes. Es wird sich Gelegenheit finden, auf die Wirkung zurückzukommen, welche °>e eßlinger Versammlung auf die Stellung Schwabens zur deutschen Frage ausgeübt' hat und noch ausübt. Inzwischen ist es die Agitation für und gegen den Handelsvertrag, welche noch immer im Vordergrund'steht. Im Grunde ist es dieselbe Bewegung, die schon im Jahr 1833 vor

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/325>, abgerufen am 24.11.2024.