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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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gang, soweit es die Quellen verstatten, aufzuhellen und zur Darstellung zu
bringen.

Es ist möglich, daß Grimm dies einer späteren Arbeit vorbehalten hat.
Denn ich sagte mit Absicht -- soweit es die Quellen verstatten. Wir stehen
hier abermals an einer Lücke, für welche der Verfasser nicht verantwort¬
lich ist.

Die Hauptquelle hierfür wären nämlich die Gedichte Michelangelos. Nun
beruhen aber alle bisherigen Ausgaben der Gedichte auf einem unzuverlässigen
Text. Sie wurden zum ersten Male herausgegeben von Michelangelo dem
Jüngern im Jahre 1623, und nach dieser Ausgabe sind alle späteren gedruckt
worden. Dieser Michelangelo versichert nun zwar in seiner Vorrede, er habe
die vaticanische Handschrift zu Grunde gelegt, dabei die Gedichte, die sich im
Besitz der Familie und sonst in Florenz befanden, verglichen, und die besten -
Lesarten gewählt. Allein schon jetzt läßt sich dieser Versicherung mit Grund
widerspreche". Der gedruckte Text weist die zahlreichsten Abweichungen von dem
vaticanischen Manuscript auf, das zum Theil die eigene Handschrift des Dich¬
ters ist, und zwar sind dieselben derart, daß die spätere Ueberarbeitung des
Herausgebers evident ist. Es ist nämlich in der Regel ein dunkler, schwerver¬
ständlicher, minder correcter Ausdruck in einen flüssigeren, eleganteren ver¬
wandelt. Noch bezeichnender für dies Verfahren ist das Manuscnpt, das im
britischen Museum aufbewahrt wird. Es ist dies die Reinschrift, nach welcher
der Druck vorgenommen wurde, enthält aber an vielen Stellen noch nachträg¬
liche Abänderungen, die in den Druck übergegangen sind, und außerdem eine
Reihe von Gedichten, die als schwierig angestrichen und fortgelassen wurden.
Eine weitere Handschrift befindet sich noch in Florenz im buonarrvtischen Nach¬
laß. Sie wurde dem Professor Cesare Guasti, Mitglied der Akademie der
Crusca und Secretär der Oberaufsichtsbchörde der toscanischen Archive über¬
geben, von welchem schon längst eine Ausgabe der Gedichte auf Grund dieses
florentiner Manuscriptes angekündigt ist. Die Verzögerung hat, wie es scheint,
dieselben Gründe, aus welchen überhaupt der Nachlaß noch zurückgehalten wird.

Inzwischen also haben wir einen unzuverlässigen, überarbeiteten Text, und
es ist wahr, daß dadurch Alles, was bisher über Michelangelos Gedichte ge¬
schrieben worden ist, von seiner Brauchbarkeit einbüßt. Grimm macht denn
auch den allcrvorsichtigsteu Gebrauch, indem ersieh aus die Benutzung weniger
Gedichte beschränkt, die zugleich einen realen Boden habe", wie die Terzinen
auf ven Tod von Bruder und Vater, die Sonette an Dante, die wenigen un¬
zweifelhaft an Vittoria Colonna gerichteten Gedichte, und einige, welche Michel-
angelos Stimmung in seinen letzten Jahren bezeichne". Mehre von ihnen
sind von Grimm vortrefflich, wenn auch frei, ins Deutsche übertragen. Diese
kritische Behutsamkeit ist jedenfalls einem Verfahren vorzuziehen, welches sich


gang, soweit es die Quellen verstatten, aufzuhellen und zur Darstellung zu
bringen.

Es ist möglich, daß Grimm dies einer späteren Arbeit vorbehalten hat.
Denn ich sagte mit Absicht — soweit es die Quellen verstatten. Wir stehen
hier abermals an einer Lücke, für welche der Verfasser nicht verantwort¬
lich ist.

Die Hauptquelle hierfür wären nämlich die Gedichte Michelangelos. Nun
beruhen aber alle bisherigen Ausgaben der Gedichte auf einem unzuverlässigen
Text. Sie wurden zum ersten Male herausgegeben von Michelangelo dem
Jüngern im Jahre 1623, und nach dieser Ausgabe sind alle späteren gedruckt
worden. Dieser Michelangelo versichert nun zwar in seiner Vorrede, er habe
die vaticanische Handschrift zu Grunde gelegt, dabei die Gedichte, die sich im
Besitz der Familie und sonst in Florenz befanden, verglichen, und die besten -
Lesarten gewählt. Allein schon jetzt läßt sich dieser Versicherung mit Grund
widerspreche». Der gedruckte Text weist die zahlreichsten Abweichungen von dem
vaticanischen Manuscript auf, das zum Theil die eigene Handschrift des Dich¬
ters ist, und zwar sind dieselben derart, daß die spätere Ueberarbeitung des
Herausgebers evident ist. Es ist nämlich in der Regel ein dunkler, schwerver¬
ständlicher, minder correcter Ausdruck in einen flüssigeren, eleganteren ver¬
wandelt. Noch bezeichnender für dies Verfahren ist das Manuscnpt, das im
britischen Museum aufbewahrt wird. Es ist dies die Reinschrift, nach welcher
der Druck vorgenommen wurde, enthält aber an vielen Stellen noch nachträg¬
liche Abänderungen, die in den Druck übergegangen sind, und außerdem eine
Reihe von Gedichten, die als schwierig angestrichen und fortgelassen wurden.
Eine weitere Handschrift befindet sich noch in Florenz im buonarrvtischen Nach¬
laß. Sie wurde dem Professor Cesare Guasti, Mitglied der Akademie der
Crusca und Secretär der Oberaufsichtsbchörde der toscanischen Archive über¬
geben, von welchem schon längst eine Ausgabe der Gedichte auf Grund dieses
florentiner Manuscriptes angekündigt ist. Die Verzögerung hat, wie es scheint,
dieselben Gründe, aus welchen überhaupt der Nachlaß noch zurückgehalten wird.

Inzwischen also haben wir einen unzuverlässigen, überarbeiteten Text, und
es ist wahr, daß dadurch Alles, was bisher über Michelangelos Gedichte ge¬
schrieben worden ist, von seiner Brauchbarkeit einbüßt. Grimm macht denn
auch den allcrvorsichtigsteu Gebrauch, indem ersieh aus die Benutzung weniger
Gedichte beschränkt, die zugleich einen realen Boden habe», wie die Terzinen
auf ven Tod von Bruder und Vater, die Sonette an Dante, die wenigen un¬
zweifelhaft an Vittoria Colonna gerichteten Gedichte, und einige, welche Michel-
angelos Stimmung in seinen letzten Jahren bezeichne». Mehre von ihnen
sind von Grimm vortrefflich, wenn auch frei, ins Deutsche übertragen. Diese
kritische Behutsamkeit ist jedenfalls einem Verfahren vorzuziehen, welches sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/307>, abgerufen am 24.11.2024.