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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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Hermann Grimms Michelangelo.

Es war der verewigte Ernst Guhl, der in seinen Künstlerbriefen zuerst
für weitere Kreise auf die Lücken aufmerksam machte, die bis jetzt in der Kennt¬
niß des Lebens Michelangelos bestanden, und auf die reiche Quelle, welche sich
namentlich in den Briefen für manche bis dahin wenig beachtete, jedenfalls
nicht im Zusammenhang behandelte Seite desselben eröffnete. Obwohl er
nur die in Bottaris und Gayes Sammlungen mitgetheilten Briefe benutzen
konnte, wußte er, gestützt auf die darin enthaltenen Züge, soweit es in Form
eines Commentars möglich war, die Grundlinien zu einem Gesammtbild des
Künstlers zu entwerfen, das für die Würdigung von Michelangelos Persönlich¬
keit bahnbrechend genannt werden darf. Namentlich ging er in Michelangelos
Wesen jener "merkwürdigen Doppelnatur" nach, "in der sich eine herbe und
strenge Größe mit einer gewissen Weichheit der Empfindung auf das Wunder¬
barste verbindet". Er fand auf Grund dieser Briefe, daß zu dem Eindruck
der Größe, den man, wenn von Michelangelo die Rede ist, als den vor¬
wiegenden bezeichnen kann, sich überall zugleich der einer "ungemeinen Milde
und Liebenswürdigkeit" gesellen werde. Diese neugcfundene Seite wurde viel¬
leicht zu stark hervorgehoben, allein das Resultat war in jedem Falle, daß das
Bild einer höchst vielseitig entwickelten' Persönlichkeit sich aus den vorhandenen
Documenten müsse gewinnen lassen.

Guhl beabsichtigte auch eine ausführliche Lebensbeschreibung des Künstlers
auszuarbeiten. Ob ihn nur sein früher Tod, der als die Zerstörung vieler
schöner Hoffnungen zu beklagen ist, daran verhinderte, oder die inzwischen be-^
gvnnene Arbeit von Hermann Grimm, wissen wir nicht. Aber auch Grimm
scheint durch die Künstlerbriefe zu seinen Studien über Michelangelo geführt
worden zu sein. Durch ihr Erscheinen war der Aufsatz "Rafael und Michel¬
angelo" angeregt, der in den "Essays" von H. Grimm wieder abgedruckt
worden ist. Jetzt hat auch sein großes zweibändiges Werk seinen Abschluß
gefunden*), ein Werk, daß wir es gleich sagen, welches unserer Literatur Ehre
wacht, das in großem Sinn sich die Aufgabe gestellt und' in großem Sinn sie
ausgeführt hat. Mit ausdauernder Energie hat sich der Verfasser in einen
überreichen Stoff vertieft, der in der That endlos schien und auf jedem gewon¬
nenen Punkte wieder neue unabsehbare Perspectiven eröffnete; mit kritischem



Leben Michelangelos von Hermann Grimm. Hannover, Rümpler, Erster Theil 1861.
leer Theil I8L3,
Hermann Grimms Michelangelo.

Es war der verewigte Ernst Guhl, der in seinen Künstlerbriefen zuerst
für weitere Kreise auf die Lücken aufmerksam machte, die bis jetzt in der Kennt¬
niß des Lebens Michelangelos bestanden, und auf die reiche Quelle, welche sich
namentlich in den Briefen für manche bis dahin wenig beachtete, jedenfalls
nicht im Zusammenhang behandelte Seite desselben eröffnete. Obwohl er
nur die in Bottaris und Gayes Sammlungen mitgetheilten Briefe benutzen
konnte, wußte er, gestützt auf die darin enthaltenen Züge, soweit es in Form
eines Commentars möglich war, die Grundlinien zu einem Gesammtbild des
Künstlers zu entwerfen, das für die Würdigung von Michelangelos Persönlich¬
keit bahnbrechend genannt werden darf. Namentlich ging er in Michelangelos
Wesen jener „merkwürdigen Doppelnatur" nach, „in der sich eine herbe und
strenge Größe mit einer gewissen Weichheit der Empfindung auf das Wunder¬
barste verbindet". Er fand auf Grund dieser Briefe, daß zu dem Eindruck
der Größe, den man, wenn von Michelangelo die Rede ist, als den vor¬
wiegenden bezeichnen kann, sich überall zugleich der einer »ungemeinen Milde
und Liebenswürdigkeit" gesellen werde. Diese neugcfundene Seite wurde viel¬
leicht zu stark hervorgehoben, allein das Resultat war in jedem Falle, daß das
Bild einer höchst vielseitig entwickelten' Persönlichkeit sich aus den vorhandenen
Documenten müsse gewinnen lassen.

Guhl beabsichtigte auch eine ausführliche Lebensbeschreibung des Künstlers
auszuarbeiten. Ob ihn nur sein früher Tod, der als die Zerstörung vieler
schöner Hoffnungen zu beklagen ist, daran verhinderte, oder die inzwischen be-^
gvnnene Arbeit von Hermann Grimm, wissen wir nicht. Aber auch Grimm
scheint durch die Künstlerbriefe zu seinen Studien über Michelangelo geführt
worden zu sein. Durch ihr Erscheinen war der Aufsatz „Rafael und Michel¬
angelo" angeregt, der in den „Essays" von H. Grimm wieder abgedruckt
worden ist. Jetzt hat auch sein großes zweibändiges Werk seinen Abschluß
gefunden*), ein Werk, daß wir es gleich sagen, welches unserer Literatur Ehre
wacht, das in großem Sinn sich die Aufgabe gestellt und' in großem Sinn sie
ausgeführt hat. Mit ausdauernder Energie hat sich der Verfasser in einen
überreichen Stoff vertieft, der in der That endlos schien und auf jedem gewon¬
nenen Punkte wieder neue unabsehbare Perspectiven eröffnete; mit kritischem



Leben Michelangelos von Hermann Grimm. Hannover, Rümpler, Erster Theil 1861.
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[0295] Hermann Grimms Michelangelo. Es war der verewigte Ernst Guhl, der in seinen Künstlerbriefen zuerst für weitere Kreise auf die Lücken aufmerksam machte, die bis jetzt in der Kennt¬ niß des Lebens Michelangelos bestanden, und auf die reiche Quelle, welche sich namentlich in den Briefen für manche bis dahin wenig beachtete, jedenfalls nicht im Zusammenhang behandelte Seite desselben eröffnete. Obwohl er nur die in Bottaris und Gayes Sammlungen mitgetheilten Briefe benutzen konnte, wußte er, gestützt auf die darin enthaltenen Züge, soweit es in Form eines Commentars möglich war, die Grundlinien zu einem Gesammtbild des Künstlers zu entwerfen, das für die Würdigung von Michelangelos Persönlich¬ keit bahnbrechend genannt werden darf. Namentlich ging er in Michelangelos Wesen jener „merkwürdigen Doppelnatur" nach, „in der sich eine herbe und strenge Größe mit einer gewissen Weichheit der Empfindung auf das Wunder¬ barste verbindet". Er fand auf Grund dieser Briefe, daß zu dem Eindruck der Größe, den man, wenn von Michelangelo die Rede ist, als den vor¬ wiegenden bezeichnen kann, sich überall zugleich der einer »ungemeinen Milde und Liebenswürdigkeit" gesellen werde. Diese neugcfundene Seite wurde viel¬ leicht zu stark hervorgehoben, allein das Resultat war in jedem Falle, daß das Bild einer höchst vielseitig entwickelten' Persönlichkeit sich aus den vorhandenen Documenten müsse gewinnen lassen. Guhl beabsichtigte auch eine ausführliche Lebensbeschreibung des Künstlers auszuarbeiten. Ob ihn nur sein früher Tod, der als die Zerstörung vieler schöner Hoffnungen zu beklagen ist, daran verhinderte, oder die inzwischen be-^ gvnnene Arbeit von Hermann Grimm, wissen wir nicht. Aber auch Grimm scheint durch die Künstlerbriefe zu seinen Studien über Michelangelo geführt worden zu sein. Durch ihr Erscheinen war der Aufsatz „Rafael und Michel¬ angelo" angeregt, der in den „Essays" von H. Grimm wieder abgedruckt worden ist. Jetzt hat auch sein großes zweibändiges Werk seinen Abschluß gefunden*), ein Werk, daß wir es gleich sagen, welches unserer Literatur Ehre wacht, das in großem Sinn sich die Aufgabe gestellt und' in großem Sinn sie ausgeführt hat. Mit ausdauernder Energie hat sich der Verfasser in einen überreichen Stoff vertieft, der in der That endlos schien und auf jedem gewon¬ nenen Punkte wieder neue unabsehbare Perspectiven eröffnete; mit kritischem Leben Michelangelos von Hermann Grimm. Hannover, Rümpler, Erster Theil 1861. leer Theil I8L3,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/295>, abgerufen am 25.11.2024.