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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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ge^en unterschreiben wir. Ebenso leuchtet Punkt 2 ein, und ließen sich dazu
noch viel naher liegende Beispiele als der Autor von "Rockwood" herbeischaffen.
Die betreffende Handschrift würde, wie das "Clerical Journal" meint, in ihrer
Vollständigkeit zwischen 1,100 und 1,200 Fvlioseitcn, jede zu 4 Spalten ge¬
habt haben, und diese in circa 600 Tagen vollzuschreiben, erfordert Finger¬
fertigkeit und Ausdauer, ist aber keineswegs unmöglich, so wenig unmöglich
wie das Gedächtniß und die Beharrlichkeit Scaligers. der in 21 Tagen den
ganzen Homer auswendig lernte. Die Hypothese in Punkt 3 können wir uns
selbst in dieser Form entfernter Möglichkeit nicht gut aneignen, und statt der
Denkbarkeit einer Täuschung substituiren wir lieber die Denkbarkeit des Getäuscht¬
seins. Der vierte Punkt des englischen Kritikers ist in der Ordnung, desgleichen
der fünfte, und auch dem sechsten und für die innere Evidenz des Codex wichtigsten
läßt sich leider nur insofern widersprechen, als wir die hier niedergelegte sehr gün¬
stige Ansicht von den Talenten und Kenntnissen des "Doctors" Simonides blos
in Betreff der Talente unbedenklich finden.

3. Causidicus hat ferner auffallender Weise eine Erinnerung außer Acht
gelassen, die sehr für Simonides und gegen Tischendorf sprechen könnte, näm¬
lich die seiner Zeit von dem Letzteren mit etwas mehr Zuversicht als Vorsicht aus-
gesprvcbne Verdammung des Leipziger Hermas-Manuscripts. das er für eine
von Simonides fabrizirte Rückübersetzung aus dem Lateinischen erklärte. Da
der "sinaitische Fund" einen jenem nahe verwandten Text bietet, so konnte der
Uneingeweihte darin bis vor Kurzem leicht eine Bestätigung der Simonideischcn
Herkunft auch des Codex vom Sinai erblicken, und noch jetzt bleibt wenig¬
stens ein Achselzucken hinsichtlich der philologischen Kenntnisse unseres Tischen-
dorf und der Gedanke gestattet: wer beim Leipziger Manuscript so gröblich irrte,
könnte ja auch, beim sinaitischen sich getäuscht haben.

4. Die Behauptungen des Simonides über die Genesis der Handschrift
erscheinen in einem mehr als zweifelhaften Lichte. Doch könnten seine Zeugen
immerhin gehört werden. Das Kaffeehaus des Popensohnes Hadschi Prodro-
mos und der Berg Athos liegen zwar fern von Leipzig, aber doch nicht außer
der Welt und außer dem Bereich der russischen Gönner Tischendorfs, und die
Aussagen griechischer Kafebschis und Kaluger mögen sehr verdächtig, aber sie
dürften hier doch einigermaßen beachtenswerth sein.

Unser Endergebniß. Ewald irrte schwer mit Chwolsons Fund, Lepsius und
die ganze berliner Akademie mit Uranios-Simonides, Tischendorf mit dem Pastor
Hennae der Leipziger Universitätsbibliothek. Es besteht, allerdings von wenig acht¬
barer Seite angeregt, aber von respektabler Seite adoptirt, der Verdanke, daß
die sinaitische Handschrift möglicher Weise nicht so alt. als sie sein sollte, sondern
-- was nicht ohne Beispiel wäre -- nur mit getreuer Copirung eines ältern
Schriftcharakters geschrieben ist. Diesem Verdacht gegenüber vornehm thun, ist


ge^en unterschreiben wir. Ebenso leuchtet Punkt 2 ein, und ließen sich dazu
noch viel naher liegende Beispiele als der Autor von „Rockwood" herbeischaffen.
Die betreffende Handschrift würde, wie das „Clerical Journal" meint, in ihrer
Vollständigkeit zwischen 1,100 und 1,200 Fvlioseitcn, jede zu 4 Spalten ge¬
habt haben, und diese in circa 600 Tagen vollzuschreiben, erfordert Finger¬
fertigkeit und Ausdauer, ist aber keineswegs unmöglich, so wenig unmöglich
wie das Gedächtniß und die Beharrlichkeit Scaligers. der in 21 Tagen den
ganzen Homer auswendig lernte. Die Hypothese in Punkt 3 können wir uns
selbst in dieser Form entfernter Möglichkeit nicht gut aneignen, und statt der
Denkbarkeit einer Täuschung substituiren wir lieber die Denkbarkeit des Getäuscht¬
seins. Der vierte Punkt des englischen Kritikers ist in der Ordnung, desgleichen
der fünfte, und auch dem sechsten und für die innere Evidenz des Codex wichtigsten
läßt sich leider nur insofern widersprechen, als wir die hier niedergelegte sehr gün¬
stige Ansicht von den Talenten und Kenntnissen des „Doctors" Simonides blos
in Betreff der Talente unbedenklich finden.

3. Causidicus hat ferner auffallender Weise eine Erinnerung außer Acht
gelassen, die sehr für Simonides und gegen Tischendorf sprechen könnte, näm¬
lich die seiner Zeit von dem Letzteren mit etwas mehr Zuversicht als Vorsicht aus-
gesprvcbne Verdammung des Leipziger Hermas-Manuscripts. das er für eine
von Simonides fabrizirte Rückübersetzung aus dem Lateinischen erklärte. Da
der „sinaitische Fund" einen jenem nahe verwandten Text bietet, so konnte der
Uneingeweihte darin bis vor Kurzem leicht eine Bestätigung der Simonideischcn
Herkunft auch des Codex vom Sinai erblicken, und noch jetzt bleibt wenig¬
stens ein Achselzucken hinsichtlich der philologischen Kenntnisse unseres Tischen-
dorf und der Gedanke gestattet: wer beim Leipziger Manuscript so gröblich irrte,
könnte ja auch, beim sinaitischen sich getäuscht haben.

4. Die Behauptungen des Simonides über die Genesis der Handschrift
erscheinen in einem mehr als zweifelhaften Lichte. Doch könnten seine Zeugen
immerhin gehört werden. Das Kaffeehaus des Popensohnes Hadschi Prodro-
mos und der Berg Athos liegen zwar fern von Leipzig, aber doch nicht außer
der Welt und außer dem Bereich der russischen Gönner Tischendorfs, und die
Aussagen griechischer Kafebschis und Kaluger mögen sehr verdächtig, aber sie
dürften hier doch einigermaßen beachtenswerth sein.

Unser Endergebniß. Ewald irrte schwer mit Chwolsons Fund, Lepsius und
die ganze berliner Akademie mit Uranios-Simonides, Tischendorf mit dem Pastor
Hennae der Leipziger Universitätsbibliothek. Es besteht, allerdings von wenig acht¬
barer Seite angeregt, aber von respektabler Seite adoptirt, der Verdanke, daß
die sinaitische Handschrift möglicher Weise nicht so alt. als sie sein sollte, sondern
— was nicht ohne Beispiel wäre — nur mit getreuer Copirung eines ältern
Schriftcharakters geschrieben ist. Diesem Verdacht gegenüber vornehm thun, ist


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[0223] ge^en unterschreiben wir. Ebenso leuchtet Punkt 2 ein, und ließen sich dazu noch viel naher liegende Beispiele als der Autor von „Rockwood" herbeischaffen. Die betreffende Handschrift würde, wie das „Clerical Journal" meint, in ihrer Vollständigkeit zwischen 1,100 und 1,200 Fvlioseitcn, jede zu 4 Spalten ge¬ habt haben, und diese in circa 600 Tagen vollzuschreiben, erfordert Finger¬ fertigkeit und Ausdauer, ist aber keineswegs unmöglich, so wenig unmöglich wie das Gedächtniß und die Beharrlichkeit Scaligers. der in 21 Tagen den ganzen Homer auswendig lernte. Die Hypothese in Punkt 3 können wir uns selbst in dieser Form entfernter Möglichkeit nicht gut aneignen, und statt der Denkbarkeit einer Täuschung substituiren wir lieber die Denkbarkeit des Getäuscht¬ seins. Der vierte Punkt des englischen Kritikers ist in der Ordnung, desgleichen der fünfte, und auch dem sechsten und für die innere Evidenz des Codex wichtigsten läßt sich leider nur insofern widersprechen, als wir die hier niedergelegte sehr gün¬ stige Ansicht von den Talenten und Kenntnissen des „Doctors" Simonides blos in Betreff der Talente unbedenklich finden. 3. Causidicus hat ferner auffallender Weise eine Erinnerung außer Acht gelassen, die sehr für Simonides und gegen Tischendorf sprechen könnte, näm¬ lich die seiner Zeit von dem Letzteren mit etwas mehr Zuversicht als Vorsicht aus- gesprvcbne Verdammung des Leipziger Hermas-Manuscripts. das er für eine von Simonides fabrizirte Rückübersetzung aus dem Lateinischen erklärte. Da der „sinaitische Fund" einen jenem nahe verwandten Text bietet, so konnte der Uneingeweihte darin bis vor Kurzem leicht eine Bestätigung der Simonideischcn Herkunft auch des Codex vom Sinai erblicken, und noch jetzt bleibt wenig¬ stens ein Achselzucken hinsichtlich der philologischen Kenntnisse unseres Tischen- dorf und der Gedanke gestattet: wer beim Leipziger Manuscript so gröblich irrte, könnte ja auch, beim sinaitischen sich getäuscht haben. 4. Die Behauptungen des Simonides über die Genesis der Handschrift erscheinen in einem mehr als zweifelhaften Lichte. Doch könnten seine Zeugen immerhin gehört werden. Das Kaffeehaus des Popensohnes Hadschi Prodro- mos und der Berg Athos liegen zwar fern von Leipzig, aber doch nicht außer der Welt und außer dem Bereich der russischen Gönner Tischendorfs, und die Aussagen griechischer Kafebschis und Kaluger mögen sehr verdächtig, aber sie dürften hier doch einigermaßen beachtenswerth sein. Unser Endergebniß. Ewald irrte schwer mit Chwolsons Fund, Lepsius und die ganze berliner Akademie mit Uranios-Simonides, Tischendorf mit dem Pastor Hennae der Leipziger Universitätsbibliothek. Es besteht, allerdings von wenig acht¬ barer Seite angeregt, aber von respektabler Seite adoptirt, der Verdanke, daß die sinaitische Handschrift möglicher Weise nicht so alt. als sie sein sollte, sondern — was nicht ohne Beispiel wäre — nur mit getreuer Copirung eines ältern Schriftcharakters geschrieben ist. Diesem Verdacht gegenüber vornehm thun, ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/223>, abgerufen am 27.07.2024.