Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.Volksleben des Jahres 1848 oder auch manche Scenen aus dem Jahr 1859 Woher dieser Umschlag der Stimmung? Genauer Beobachtende werden Zunächst die Dinge in Oestreich, die fortdauernde Unfertigkeit der dortigen Volksleben des Jahres 1848 oder auch manche Scenen aus dem Jahr 1859 Woher dieser Umschlag der Stimmung? Genauer Beobachtende werden Zunächst die Dinge in Oestreich, die fortdauernde Unfertigkeit der dortigen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0020" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/187514"/> <p xml:id="ID_43" prev="#ID_42"> Volksleben des Jahres 1848 oder auch manche Scenen aus dem Jahr 1859<lb/> ins Gedächtniß zurückrief, fand sich angenehm überrascht durch die Wahrneh¬<lb/> mung, wie sehr die Phrase ihre Macht über die Gemüther verloren hatte, so<lb/> oft ein Redner in einen solchen Ton verfallen wollte, konnte er sicher sein,<lb/> daß er ohne Eindruck blieb, höchstens einige Heiterkeit erweckte; die schönsten<lb/> Effecte blieben wirkungslos, speciell die großdeutsche Phrase wollte gar nicht<lb/> mehr verfangen. Auch als Oesterlen die Autorität Uhlands für sich in An¬<lb/> spruch nahm und die Dichterworte vom Riesenleib Germaniens citirte, der<lb/> nicht zerstückelt werden dürfe, bewahrte die Versammlung den Takt des Schwei¬<lb/> gens, und als Becher mit dem schönen Organ rief: „Die ganze Linke in Frank¬<lb/> furt war grvßdeutsch; wäre Robert Blum nicht großdeutsch gewesen, er läge<lb/> nicht in der Brigittenau bei Wien!" belehrte ihn die Kälte der Zuhörer ver¬<lb/> ständlich genug über den Unterschied der Zeiten, und — man darf es sagen —<lb/> über die fortgeschrittene politische Bildung. Als aber Oesterlen rief: „in Preu¬<lb/> ßen sind genau dieselben Schwierigkeiten zu überwinden wie in Oestreich," als<lb/> er seinen bekannten Satz wiederholte: „ich sehe nur hier Großpreußen, dort<lb/> Großöstreich, wir aber, wir sind die wahrhaft deutsch Gesinnten," scholl ihm<lb/> von allen Bänken lauter Widerspruch entgegen.</p><lb/> <p xml:id="ID_44"> Woher dieser Umschlag der Stimmung? Genauer Beobachtende werden<lb/> ihn nicht erst an diesem Tag und in dieser Versammlung wahrgenommen ha¬<lb/> ben. Ein fleißiger Theaterbesucher z. B. müßte fast statistische Daten zu liefern<lb/> im Stande sein über die Abnahme der großdeutschen Demonstrationen, zu wel-<lb/> chen vor noch nicht langer Zeit passende und unpassende Stellen im Stuttgarter<lb/> Hoftheater benutzt zu werden pflegten. Man sage nicht, die Geister seien ruhi¬<lb/> ger oder abgestumpfter, Demonstrationen überhaupt abgeneigter geworden. Es<lb/> sind sehr bestimmte Gründe, welche langsam, aber stetig jenen Umschlag herbei¬<lb/> geführt haben.</p><lb/> <p xml:id="ID_45" next="#ID_46"> Zunächst die Dinge in Oestreich, die fortdauernde Unfertigkeit der dortigen<lb/> Zustände, das Festhalten an einer Gesammtverfassung, welche die Betheiligung<lb/> an einer wirklichen deutschen Reform schlechterdings zur Unmöglichkeit macht,<lb/> selbst wenn der gute Wille dazu vorhanden wäre. Noch vor zwei Jahren hatte<lb/> man aus der Eßlinger Versammlung in einer besondern Adresse den Deutsch-<lb/> östreichern die Sympathien Süddeutschlands entgegengebracht; sie wurde unbe¬<lb/> achtet bei Seite gelegt. Wo seitdem deutsche Männer zur Berathung der Fra¬<lb/> gen des Gesammtvaterlands zusammentraten, fehlten trotz wiederholter specieller<lb/> Aufforderung die Oestreicher. Und selbst nach Frankfurt hatte Herr v. Schmer¬<lb/> ling nur einige Getreue zu senden vermocht. Wo die östreichische Presse sich<lb/> überhaupt mit den deutschen Angelegenheiten beschäftigte, geschah es nur, um<lb/> in unfruchtbarer Weise gegen die nationale Partei zu polemistren. Was Wun¬<lb/> der, wenn ein solches Verhalten endlich auch in großdcutschen Kreisen seine</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0020]
Volksleben des Jahres 1848 oder auch manche Scenen aus dem Jahr 1859
ins Gedächtniß zurückrief, fand sich angenehm überrascht durch die Wahrneh¬
mung, wie sehr die Phrase ihre Macht über die Gemüther verloren hatte, so
oft ein Redner in einen solchen Ton verfallen wollte, konnte er sicher sein,
daß er ohne Eindruck blieb, höchstens einige Heiterkeit erweckte; die schönsten
Effecte blieben wirkungslos, speciell die großdeutsche Phrase wollte gar nicht
mehr verfangen. Auch als Oesterlen die Autorität Uhlands für sich in An¬
spruch nahm und die Dichterworte vom Riesenleib Germaniens citirte, der
nicht zerstückelt werden dürfe, bewahrte die Versammlung den Takt des Schwei¬
gens, und als Becher mit dem schönen Organ rief: „Die ganze Linke in Frank¬
furt war grvßdeutsch; wäre Robert Blum nicht großdeutsch gewesen, er läge
nicht in der Brigittenau bei Wien!" belehrte ihn die Kälte der Zuhörer ver¬
ständlich genug über den Unterschied der Zeiten, und — man darf es sagen —
über die fortgeschrittene politische Bildung. Als aber Oesterlen rief: „in Preu¬
ßen sind genau dieselben Schwierigkeiten zu überwinden wie in Oestreich," als
er seinen bekannten Satz wiederholte: „ich sehe nur hier Großpreußen, dort
Großöstreich, wir aber, wir sind die wahrhaft deutsch Gesinnten," scholl ihm
von allen Bänken lauter Widerspruch entgegen.
Woher dieser Umschlag der Stimmung? Genauer Beobachtende werden
ihn nicht erst an diesem Tag und in dieser Versammlung wahrgenommen ha¬
ben. Ein fleißiger Theaterbesucher z. B. müßte fast statistische Daten zu liefern
im Stande sein über die Abnahme der großdeutschen Demonstrationen, zu wel-
chen vor noch nicht langer Zeit passende und unpassende Stellen im Stuttgarter
Hoftheater benutzt zu werden pflegten. Man sage nicht, die Geister seien ruhi¬
ger oder abgestumpfter, Demonstrationen überhaupt abgeneigter geworden. Es
sind sehr bestimmte Gründe, welche langsam, aber stetig jenen Umschlag herbei¬
geführt haben.
Zunächst die Dinge in Oestreich, die fortdauernde Unfertigkeit der dortigen
Zustände, das Festhalten an einer Gesammtverfassung, welche die Betheiligung
an einer wirklichen deutschen Reform schlechterdings zur Unmöglichkeit macht,
selbst wenn der gute Wille dazu vorhanden wäre. Noch vor zwei Jahren hatte
man aus der Eßlinger Versammlung in einer besondern Adresse den Deutsch-
östreichern die Sympathien Süddeutschlands entgegengebracht; sie wurde unbe¬
achtet bei Seite gelegt. Wo seitdem deutsche Männer zur Berathung der Fra¬
gen des Gesammtvaterlands zusammentraten, fehlten trotz wiederholter specieller
Aufforderung die Oestreicher. Und selbst nach Frankfurt hatte Herr v. Schmer¬
ling nur einige Getreue zu senden vermocht. Wo die östreichische Presse sich
überhaupt mit den deutschen Angelegenheiten beschäftigte, geschah es nur, um
in unfruchtbarer Weise gegen die nationale Partei zu polemistren. Was Wun¬
der, wenn ein solches Verhalten endlich auch in großdcutschen Kreisen seine
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