Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die neben dem, was uns hier vorzugsweise interessirt, neben der polnischen
Angelegenheit, auch über andere damals verhandelte Fragen, vor Allem die
sächsische, in sehr dankenswerther Weise Licht verbreiten und mehre dabei besonders
thätig gewesene Persönlichkeiten, namentlich den Kaiser Alexander und Talley-
rand, nach neuen Quellen treffend und vielfach überraschend charakterisiren.

Als Kaiser Alexander im Herbst des Siegcsjahres 1814 mit den übrigen
Fürsten in Wien zusammenkam, um die neue europäische Ordnung zu berathen
und festzustellen, erschien er mit den großartigsten und umfassendsten Plänen.
Einerseits ging sein Streben, die Ideen seiner Jugend wieder aufnehmend,
dahin, in seinem Reiche im Sinne des Liberalismus ein gesteigertes politisches
und Culturleben hervorzurufen; andrerseits richtete er den Blick nach Süden und
gedachte der Pläne Katharinas, die Grenzen oder doch den Einfluß Rußlands
bis zu den Pforten des Schwarzen Meeres auszudehnen.

In beiden Richtungen sollten die Beschlüsse des wiener Congresses Ru߬
land oder vielmehr seinen Kaiser fördern. Die Erwerbung des Herzogthums
Warschau, zu welcher das versammelte Europa seine Zustimmung geben sollte,
war in den Augen Alexanders nicht blos deshalb werthvoll, weil sie Rußlands
Gebiet vergrößerte und ihm eine günstige, weit nach Westen in das Herz des
Welttheils vorgeschobene Stellung gab. Sie stand auch im Zusammenhang mit
seinen reformatorischen Absichten für das Innere Rußlands und andrerseits
mit den schon früh, namentlich durch seinen Jugendfreund Adam Czartoryski,
in ihm angeregten Träumen, dereinst als großherziger Wiederhersteller Polens
mit goldnen Buchstaben in den Annalen der Geschichte zu glänzen. In dem
als selbständiges Reich mit Rußland vereinigten Polen sollte das regere west¬
europäische politische Leben zuerst zur Erscheinung kommen, um sich von hier
allmälig in das alte Moskowiterland zu verbreiten und dieses nach dem Vor¬
bilde Polens umzugestalten. Als Napoleon geneigt schien, ein Polenreich, das
dann ein Rußland feindliches sein mußte, unter französischem Schutz herzustellen,
protestirte Kaiser Alexander in bestimmtester Weise dagegen. Ein durch Nu߬
land geschaffnes Königreich Polen, dessen Krone der Czar trug, war natürlich
etwas ganz Anderes.

Und ähnlich verhielt sichs mit dem zweiten Hauptstreben Alexanders. In
der That gesonnen, sich nur durch edle und erhabene Beweggründe bestimmen
zu lassen, aber auch geneigt, sich die Dinge etwas willkürlich in diesem Sinne
zu deuten und über Manches den Schleier verschönernder Selbsttäuschung zu
breiten, wußte er auch seine Pläne gegen die Türkei sich selbst gegenüber zu
idealisiren. Nicht allein die mystisch-romantische Vorstellung von einem Sieg
des Kreuzes über den Halbmond, auch die Befreiung des ältesten europäischen
Culturvolks, der Nachkommen Athens und Spartas, von dem Joch des rohen
Türkenstammes war ein nothwendiges Element dieser Pläne. Rußlands Herr-


die neben dem, was uns hier vorzugsweise interessirt, neben der polnischen
Angelegenheit, auch über andere damals verhandelte Fragen, vor Allem die
sächsische, in sehr dankenswerther Weise Licht verbreiten und mehre dabei besonders
thätig gewesene Persönlichkeiten, namentlich den Kaiser Alexander und Talley-
rand, nach neuen Quellen treffend und vielfach überraschend charakterisiren.

Als Kaiser Alexander im Herbst des Siegcsjahres 1814 mit den übrigen
Fürsten in Wien zusammenkam, um die neue europäische Ordnung zu berathen
und festzustellen, erschien er mit den großartigsten und umfassendsten Plänen.
Einerseits ging sein Streben, die Ideen seiner Jugend wieder aufnehmend,
dahin, in seinem Reiche im Sinne des Liberalismus ein gesteigertes politisches
und Culturleben hervorzurufen; andrerseits richtete er den Blick nach Süden und
gedachte der Pläne Katharinas, die Grenzen oder doch den Einfluß Rußlands
bis zu den Pforten des Schwarzen Meeres auszudehnen.

In beiden Richtungen sollten die Beschlüsse des wiener Congresses Ru߬
land oder vielmehr seinen Kaiser fördern. Die Erwerbung des Herzogthums
Warschau, zu welcher das versammelte Europa seine Zustimmung geben sollte,
war in den Augen Alexanders nicht blos deshalb werthvoll, weil sie Rußlands
Gebiet vergrößerte und ihm eine günstige, weit nach Westen in das Herz des
Welttheils vorgeschobene Stellung gab. Sie stand auch im Zusammenhang mit
seinen reformatorischen Absichten für das Innere Rußlands und andrerseits
mit den schon früh, namentlich durch seinen Jugendfreund Adam Czartoryski,
in ihm angeregten Träumen, dereinst als großherziger Wiederhersteller Polens
mit goldnen Buchstaben in den Annalen der Geschichte zu glänzen. In dem
als selbständiges Reich mit Rußland vereinigten Polen sollte das regere west¬
europäische politische Leben zuerst zur Erscheinung kommen, um sich von hier
allmälig in das alte Moskowiterland zu verbreiten und dieses nach dem Vor¬
bilde Polens umzugestalten. Als Napoleon geneigt schien, ein Polenreich, das
dann ein Rußland feindliches sein mußte, unter französischem Schutz herzustellen,
protestirte Kaiser Alexander in bestimmtester Weise dagegen. Ein durch Nu߬
land geschaffnes Königreich Polen, dessen Krone der Czar trug, war natürlich
etwas ganz Anderes.

Und ähnlich verhielt sichs mit dem zweiten Hauptstreben Alexanders. In
der That gesonnen, sich nur durch edle und erhabene Beweggründe bestimmen
zu lassen, aber auch geneigt, sich die Dinge etwas willkürlich in diesem Sinne
zu deuten und über Manches den Schleier verschönernder Selbsttäuschung zu
breiten, wußte er auch seine Pläne gegen die Türkei sich selbst gegenüber zu
idealisiren. Nicht allein die mystisch-romantische Vorstellung von einem Sieg
des Kreuzes über den Halbmond, auch die Befreiung des ältesten europäischen
Culturvolks, der Nachkommen Athens und Spartas, von dem Joch des rohen
Türkenstammes war ein nothwendiges Element dieser Pläne. Rußlands Herr-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0090" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/116018"/>
          <p xml:id="ID_326" prev="#ID_325"> die neben dem, was uns hier vorzugsweise interessirt, neben der polnischen<lb/>
Angelegenheit, auch über andere damals verhandelte Fragen, vor Allem die<lb/>
sächsische, in sehr dankenswerther Weise Licht verbreiten und mehre dabei besonders<lb/>
thätig gewesene Persönlichkeiten, namentlich den Kaiser Alexander und Talley-<lb/>
rand, nach neuen Quellen treffend und vielfach überraschend charakterisiren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_327"> Als Kaiser Alexander im Herbst des Siegcsjahres 1814 mit den übrigen<lb/>
Fürsten in Wien zusammenkam, um die neue europäische Ordnung zu berathen<lb/>
und festzustellen, erschien er mit den großartigsten und umfassendsten Plänen.<lb/>
Einerseits ging sein Streben, die Ideen seiner Jugend wieder aufnehmend,<lb/>
dahin, in seinem Reiche im Sinne des Liberalismus ein gesteigertes politisches<lb/>
und Culturleben hervorzurufen; andrerseits richtete er den Blick nach Süden und<lb/>
gedachte der Pläne Katharinas, die Grenzen oder doch den Einfluß Rußlands<lb/>
bis zu den Pforten des Schwarzen Meeres auszudehnen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_328"> In beiden Richtungen sollten die Beschlüsse des wiener Congresses Ru߬<lb/>
land oder vielmehr seinen Kaiser fördern. Die Erwerbung des Herzogthums<lb/>
Warschau, zu welcher das versammelte Europa seine Zustimmung geben sollte,<lb/>
war in den Augen Alexanders nicht blos deshalb werthvoll, weil sie Rußlands<lb/>
Gebiet vergrößerte und ihm eine günstige, weit nach Westen in das Herz des<lb/>
Welttheils vorgeschobene Stellung gab. Sie stand auch im Zusammenhang mit<lb/>
seinen reformatorischen Absichten für das Innere Rußlands und andrerseits<lb/>
mit den schon früh, namentlich durch seinen Jugendfreund Adam Czartoryski,<lb/>
in ihm angeregten Träumen, dereinst als großherziger Wiederhersteller Polens<lb/>
mit goldnen Buchstaben in den Annalen der Geschichte zu glänzen. In dem<lb/>
als selbständiges Reich mit Rußland vereinigten Polen sollte das regere west¬<lb/>
europäische politische Leben zuerst zur Erscheinung kommen, um sich von hier<lb/>
allmälig in das alte Moskowiterland zu verbreiten und dieses nach dem Vor¬<lb/>
bilde Polens umzugestalten. Als Napoleon geneigt schien, ein Polenreich, das<lb/>
dann ein Rußland feindliches sein mußte, unter französischem Schutz herzustellen,<lb/>
protestirte Kaiser Alexander in bestimmtester Weise dagegen. Ein durch Nu߬<lb/>
land geschaffnes Königreich Polen, dessen Krone der Czar trug, war natürlich<lb/>
etwas ganz Anderes.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_329" next="#ID_330"> Und ähnlich verhielt sichs mit dem zweiten Hauptstreben Alexanders. In<lb/>
der That gesonnen, sich nur durch edle und erhabene Beweggründe bestimmen<lb/>
zu lassen, aber auch geneigt, sich die Dinge etwas willkürlich in diesem Sinne<lb/>
zu deuten und über Manches den Schleier verschönernder Selbsttäuschung zu<lb/>
breiten, wußte er auch seine Pläne gegen die Türkei sich selbst gegenüber zu<lb/>
idealisiren. Nicht allein die mystisch-romantische Vorstellung von einem Sieg<lb/>
des Kreuzes über den Halbmond, auch die Befreiung des ältesten europäischen<lb/>
Culturvolks, der Nachkommen Athens und Spartas, von dem Joch des rohen<lb/>
Türkenstammes war ein nothwendiges Element dieser Pläne. Rußlands Herr-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0090] die neben dem, was uns hier vorzugsweise interessirt, neben der polnischen Angelegenheit, auch über andere damals verhandelte Fragen, vor Allem die sächsische, in sehr dankenswerther Weise Licht verbreiten und mehre dabei besonders thätig gewesene Persönlichkeiten, namentlich den Kaiser Alexander und Talley- rand, nach neuen Quellen treffend und vielfach überraschend charakterisiren. Als Kaiser Alexander im Herbst des Siegcsjahres 1814 mit den übrigen Fürsten in Wien zusammenkam, um die neue europäische Ordnung zu berathen und festzustellen, erschien er mit den großartigsten und umfassendsten Plänen. Einerseits ging sein Streben, die Ideen seiner Jugend wieder aufnehmend, dahin, in seinem Reiche im Sinne des Liberalismus ein gesteigertes politisches und Culturleben hervorzurufen; andrerseits richtete er den Blick nach Süden und gedachte der Pläne Katharinas, die Grenzen oder doch den Einfluß Rußlands bis zu den Pforten des Schwarzen Meeres auszudehnen. In beiden Richtungen sollten die Beschlüsse des wiener Congresses Ru߬ land oder vielmehr seinen Kaiser fördern. Die Erwerbung des Herzogthums Warschau, zu welcher das versammelte Europa seine Zustimmung geben sollte, war in den Augen Alexanders nicht blos deshalb werthvoll, weil sie Rußlands Gebiet vergrößerte und ihm eine günstige, weit nach Westen in das Herz des Welttheils vorgeschobene Stellung gab. Sie stand auch im Zusammenhang mit seinen reformatorischen Absichten für das Innere Rußlands und andrerseits mit den schon früh, namentlich durch seinen Jugendfreund Adam Czartoryski, in ihm angeregten Träumen, dereinst als großherziger Wiederhersteller Polens mit goldnen Buchstaben in den Annalen der Geschichte zu glänzen. In dem als selbständiges Reich mit Rußland vereinigten Polen sollte das regere west¬ europäische politische Leben zuerst zur Erscheinung kommen, um sich von hier allmälig in das alte Moskowiterland zu verbreiten und dieses nach dem Vor¬ bilde Polens umzugestalten. Als Napoleon geneigt schien, ein Polenreich, das dann ein Rußland feindliches sein mußte, unter französischem Schutz herzustellen, protestirte Kaiser Alexander in bestimmtester Weise dagegen. Ein durch Nu߬ land geschaffnes Königreich Polen, dessen Krone der Czar trug, war natürlich etwas ganz Anderes. Und ähnlich verhielt sichs mit dem zweiten Hauptstreben Alexanders. In der That gesonnen, sich nur durch edle und erhabene Beweggründe bestimmen zu lassen, aber auch geneigt, sich die Dinge etwas willkürlich in diesem Sinne zu deuten und über Manches den Schleier verschönernder Selbsttäuschung zu breiten, wußte er auch seine Pläne gegen die Türkei sich selbst gegenüber zu idealisiren. Nicht allein die mystisch-romantische Vorstellung von einem Sieg des Kreuzes über den Halbmond, auch die Befreiung des ältesten europäischen Culturvolks, der Nachkommen Athens und Spartas, von dem Joch des rohen Türkenstammes war ein nothwendiges Element dieser Pläne. Rußlands Herr-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/90
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/90>, abgerufen am 15.01.2025.