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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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Gentz hatte durchaus fein vertrauen zu den leitenden Persönlichkeiten, Aufs
entschiedenste aber mißbilligte er die besonders von Rußland befolgte Taktik,
Preußen durch Einschüchtern sür die Koalition zu gewinnen. Und in der That
würde die Drohung Alexanders, 100,000 Mann durch Schlesien marschiren zu
lassen, wahrscheinlich das bewirkt haben, was alte Künste der französischen
Diplomaten bis jetzt vergebens erstrebt hatten, wenn nicht Napoleon alsbald
die brutale Drohung der Russen durch eine brutale Handlung überboten und
auf die Art Preußen wieder seinen Gegnern in die Arme getrieben hatte. Die
Aufregung in Berlin über die russischen Pläne war sehr groß. In einer Be¬
rathung, bei der Hardenberg, Haugwitz und die namhaftesten Generale zugegen
waren, einigte man sich dahin, daß alle Kräfte aufzubieten seien, um die
Selbständigkeit Preußens mit den Waffen zu behaupten. Da traf die Nach¬
richt Von dem Durchmarsch eines französischen Corps durch Ansbach ein; Napo¬
leon hatte das ausgeführt, womit Rußland gedroht hatte, die Neutralität
Preußens war gewaltsam verletzt worden. Der gewaltige und erschütternde Ein¬
druck, den diese Handlung hervorrief, bildete, wie Hauffer mit Wärme hervor¬
hebt, die erfreulichste Episode in der Zeit der preußischen Erniedrigung. Es schien,
als ob der alte Preußenstolz sich zur entschlossenen That aufraffen werde. Die
Erklärungen Preußens an Frankreich sind energisch gehalten; die Potsdamer
Convention vom 3. November, durch die Preußen sich verpflichtete, als vermit¬
telnde Macht von Napoleon die früheren Verträge als Friedensgrundlage zu
fordern und für den Fall der Nichtannahme mit 180,000 Mann ins Feld zu
rücken, war offenbar mit der Neutralität nicht mehr vereinbar. Und in der
That blieb Preußen nach seinem ersten Austreten nichts übrig, als mit dem
Aufgebot aller Kräfte aus dem eingeschlagenen Wege zu verharren. Eine
Depesche Finkensteins aus Wien scheint uns die Gefahren und die günstigen
Momente der Situation treffend zu bezeichnen. Oestreich, schreibt Finkenstein
unter dem 23. Octooer, sei nun nicht mehr der alte Nebenbuhler, sondern der
natürliche Verbündete. Die Lage sei so, daß man preußische Truppen jetzt in
Oestreich als Befreier begrüßen würde. "Welch glorreiche Rolle für E. M.
jetzt allein noch die Welt von Bonapartes Joch erretten zu können! Und ist es
nicht zugleich in Ihrem eigenen Interesse, Oestreich vor völligem Umsturz zu be¬
wahren? E. M. kennen den Charakter Napoleons hinlänglich, um zu wissen,
daß er die letzten Vorgänge nie verzeihen wird, nachdem er so fest auf Ihre
Friedfertigkeit gezählt, daß er es gewagt hat, mit unverschämter Dreistigkeit
Ihr Gebiet zu verletzen. Sie müssen darum auf einen Krieg mit ihm gesaßt
sein, sobald er Oestreich vollends zu Boden geschlagen hat." Es folgt jetzt
Haugwitz' Sendung an Napoleon. Wesentliche neue Aufklärungen über diese
Mission gibt die neuere Auflage nicht: ein neu hinzugekommener Bericht von Haug¬
witz ist nicht geeignet, sein Verhalten irgendwie zu rechtfertigen oder auch nur


Gentz hatte durchaus fein vertrauen zu den leitenden Persönlichkeiten, Aufs
entschiedenste aber mißbilligte er die besonders von Rußland befolgte Taktik,
Preußen durch Einschüchtern sür die Koalition zu gewinnen. Und in der That
würde die Drohung Alexanders, 100,000 Mann durch Schlesien marschiren zu
lassen, wahrscheinlich das bewirkt haben, was alte Künste der französischen
Diplomaten bis jetzt vergebens erstrebt hatten, wenn nicht Napoleon alsbald
die brutale Drohung der Russen durch eine brutale Handlung überboten und
auf die Art Preußen wieder seinen Gegnern in die Arme getrieben hatte. Die
Aufregung in Berlin über die russischen Pläne war sehr groß. In einer Be¬
rathung, bei der Hardenberg, Haugwitz und die namhaftesten Generale zugegen
waren, einigte man sich dahin, daß alle Kräfte aufzubieten seien, um die
Selbständigkeit Preußens mit den Waffen zu behaupten. Da traf die Nach¬
richt Von dem Durchmarsch eines französischen Corps durch Ansbach ein; Napo¬
leon hatte das ausgeführt, womit Rußland gedroht hatte, die Neutralität
Preußens war gewaltsam verletzt worden. Der gewaltige und erschütternde Ein¬
druck, den diese Handlung hervorrief, bildete, wie Hauffer mit Wärme hervor¬
hebt, die erfreulichste Episode in der Zeit der preußischen Erniedrigung. Es schien,
als ob der alte Preußenstolz sich zur entschlossenen That aufraffen werde. Die
Erklärungen Preußens an Frankreich sind energisch gehalten; die Potsdamer
Convention vom 3. November, durch die Preußen sich verpflichtete, als vermit¬
telnde Macht von Napoleon die früheren Verträge als Friedensgrundlage zu
fordern und für den Fall der Nichtannahme mit 180,000 Mann ins Feld zu
rücken, war offenbar mit der Neutralität nicht mehr vereinbar. Und in der
That blieb Preußen nach seinem ersten Austreten nichts übrig, als mit dem
Aufgebot aller Kräfte aus dem eingeschlagenen Wege zu verharren. Eine
Depesche Finkensteins aus Wien scheint uns die Gefahren und die günstigen
Momente der Situation treffend zu bezeichnen. Oestreich, schreibt Finkenstein
unter dem 23. Octooer, sei nun nicht mehr der alte Nebenbuhler, sondern der
natürliche Verbündete. Die Lage sei so, daß man preußische Truppen jetzt in
Oestreich als Befreier begrüßen würde. „Welch glorreiche Rolle für E. M.
jetzt allein noch die Welt von Bonapartes Joch erretten zu können! Und ist es
nicht zugleich in Ihrem eigenen Interesse, Oestreich vor völligem Umsturz zu be¬
wahren? E. M. kennen den Charakter Napoleons hinlänglich, um zu wissen,
daß er die letzten Vorgänge nie verzeihen wird, nachdem er so fest auf Ihre
Friedfertigkeit gezählt, daß er es gewagt hat, mit unverschämter Dreistigkeit
Ihr Gebiet zu verletzen. Sie müssen darum auf einen Krieg mit ihm gesaßt
sein, sobald er Oestreich vollends zu Boden geschlagen hat." Es folgt jetzt
Haugwitz' Sendung an Napoleon. Wesentliche neue Aufklärungen über diese
Mission gibt die neuere Auflage nicht: ein neu hinzugekommener Bericht von Haug¬
witz ist nicht geeignet, sein Verhalten irgendwie zu rechtfertigen oder auch nur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/422>, abgerufen am 15.01.2025.