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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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Die erste Hälfte der zwanziger Jahre ward mit grammatischen Arbeiten
der Herausgabe des ersten Bandes der Grammatik in zweiter Auflage und des
zweiten Bandes ausgefüllt. Dann aber wandte sich Grimm, "um sich zu er¬
holen", anderen Studien zu, zu denen der erste Anstoß vielleicht in seiner frühe¬
ren Beschäftigung mit der Jurisprudenz gesucht werden darf, wie denn auch
die ersten Spuren derselben in den Aufsätzen in der Zeitschrift für geschichtliche
Rechtswissenschaft ans Licht traten. Aber auch nur der erste Anstoß. Denn
wenn auch die Abhandlung über die Literatur der altnordischen Gesetze keinen
abweichenden Standpunkt verrieth, so bewies doch bereits'der Aufsatz über die
Poesie im Recht, daß Grimm von einem ganz andern Interesse als dem rein
juristischen aus auf die Behandlung seines Gegenstandes geführt ward. Für
ihn war nicht das Recht als solches, sondern die Form desselben die Haupt¬
sache. Der sinnliche, symbolische Charakter in den rechtlichen Bestimmungen,
den Formeln, in den tausend und aber tausend Formalitäten, an denen na¬
mentlich das altdeutsche Recht so reich ist, die sinnlich-poetische Ausdrucksweise,
die mehrfach direct sich der Formen der Poesie bedient, sie war es, auf was
es ihm ankam. So wurden die alterthümlichen Bestimmungen des Rechts ihm
ein redendes Zeugniß jenes früheren, sinnlicher empfindenden Zeitalters, wo die
Poesie noch alle Sphären der höheren geistigen Thätigkeit durchdrang, wo die
Vorstellungen noch nicht abstract geworden waren, sondern noch in lebendiger
Anschaulichkeit gedacht wurden. Was Grimm schon in früheren Jahren in die¬
ser Richtung gesammelt hatte, das beabsichtigte er nun in einem eigenen Werke
niederzulegen. So entstanden "die N cases alterthümer", die zuerst in
Göttingen 1828 und dann ebenda 1834 in zweiter Auflage herauskamen. Er
wollte zunächst-"Materialien für das sinnliche Element der deutschen Rechts¬
geschichte, so viel er ihrer habhaft werden konnte, vollständig und getreu sam¬
meln." Und das hat er mit jenem umsichtigen Blick und jenem riesigen Fleiße
gethan, den wir in allen seinen Werken anstaunen. Ein ganz neuer Einblick
ward hier geboten auf eine bisher unbeachtet gebliebene Seite des geistigen
und Culturlebens. Es war mehr fast als in der Grammatik die Wissenschaft
wieder um ein neues Gebiet bereichert. Und obwohl Grimm in diesem Werke
eigentlich ein ihm schon fremd gewordenes Terrain betrat, so behielt er doch
auf demselben die Zügel dermaßen in der Hand, daß noch 1834 ein genauer
Wiederabdruck genügen konnte und mußte, zu seinem eigenen großen Leidwesen,
da er unermüdlich fortgesammelt und fortgedacht hatte und sich, im Drange
anderer Arbeiten, nur ungern dazu verstand, den reichen Schatz berichtigten und
gemehrten Materiales ungenützt zu lassen. Eine Art Ergänzung zu den
Rechtsalterthümern ist die Ausgabe der "Welses ümer". die jenen so ganz be¬
sonders als Quelle gedient hatten. Es sind dies bekanntlich Nechtsnachweisungen
und Belehrungen, besonders von .Gemeinden und Genossenschaften veranlaßte


Die erste Hälfte der zwanziger Jahre ward mit grammatischen Arbeiten
der Herausgabe des ersten Bandes der Grammatik in zweiter Auflage und des
zweiten Bandes ausgefüllt. Dann aber wandte sich Grimm, „um sich zu er¬
holen", anderen Studien zu, zu denen der erste Anstoß vielleicht in seiner frühe¬
ren Beschäftigung mit der Jurisprudenz gesucht werden darf, wie denn auch
die ersten Spuren derselben in den Aufsätzen in der Zeitschrift für geschichtliche
Rechtswissenschaft ans Licht traten. Aber auch nur der erste Anstoß. Denn
wenn auch die Abhandlung über die Literatur der altnordischen Gesetze keinen
abweichenden Standpunkt verrieth, so bewies doch bereits'der Aufsatz über die
Poesie im Recht, daß Grimm von einem ganz andern Interesse als dem rein
juristischen aus auf die Behandlung seines Gegenstandes geführt ward. Für
ihn war nicht das Recht als solches, sondern die Form desselben die Haupt¬
sache. Der sinnliche, symbolische Charakter in den rechtlichen Bestimmungen,
den Formeln, in den tausend und aber tausend Formalitäten, an denen na¬
mentlich das altdeutsche Recht so reich ist, die sinnlich-poetische Ausdrucksweise,
die mehrfach direct sich der Formen der Poesie bedient, sie war es, auf was
es ihm ankam. So wurden die alterthümlichen Bestimmungen des Rechts ihm
ein redendes Zeugniß jenes früheren, sinnlicher empfindenden Zeitalters, wo die
Poesie noch alle Sphären der höheren geistigen Thätigkeit durchdrang, wo die
Vorstellungen noch nicht abstract geworden waren, sondern noch in lebendiger
Anschaulichkeit gedacht wurden. Was Grimm schon in früheren Jahren in die¬
ser Richtung gesammelt hatte, das beabsichtigte er nun in einem eigenen Werke
niederzulegen. So entstanden „die N cases alterthümer", die zuerst in
Göttingen 1828 und dann ebenda 1834 in zweiter Auflage herauskamen. Er
wollte zunächst-„Materialien für das sinnliche Element der deutschen Rechts¬
geschichte, so viel er ihrer habhaft werden konnte, vollständig und getreu sam¬
meln." Und das hat er mit jenem umsichtigen Blick und jenem riesigen Fleiße
gethan, den wir in allen seinen Werken anstaunen. Ein ganz neuer Einblick
ward hier geboten auf eine bisher unbeachtet gebliebene Seite des geistigen
und Culturlebens. Es war mehr fast als in der Grammatik die Wissenschaft
wieder um ein neues Gebiet bereichert. Und obwohl Grimm in diesem Werke
eigentlich ein ihm schon fremd gewordenes Terrain betrat, so behielt er doch
auf demselben die Zügel dermaßen in der Hand, daß noch 1834 ein genauer
Wiederabdruck genügen konnte und mußte, zu seinem eigenen großen Leidwesen,
da er unermüdlich fortgesammelt und fortgedacht hatte und sich, im Drange
anderer Arbeiten, nur ungern dazu verstand, den reichen Schatz berichtigten und
gemehrten Materiales ungenützt zu lassen. Eine Art Ergänzung zu den
Rechtsalterthümern ist die Ausgabe der „Welses ümer". die jenen so ganz be¬
sonders als Quelle gedient hatten. Es sind dies bekanntlich Nechtsnachweisungen
und Belehrungen, besonders von .Gemeinden und Genossenschaften veranlaßte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/301>, abgerufen am 15.01.2025.