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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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Ur. 36) eröffnet bereits eine weite Perspektive in das Gebiet der vergleichen¬
den Sagentunde und zeugt schon von einem ausgedehnten Studium der ver¬
schiedenartigsten mittelalterlichen Quellen. Seine "Gedanken, wie sich die
Sagen zur Poesie und Geschichte verhalten" veröffentlichte Grimm dagegen in
der Zeitung für Einsiedler (1808 Ur. 19 u. 20). Sie enthalten in vorzüg¬
licher Darstellung die sinnig poetischen Grundgedanken, die seitdem seine wie
seines Bruders Wilhelm Thätigkeit auf diesem Gebiete beherrscht haben. Wie
sehr der Ausgangspunkt derselben noch in romantischer Verhüllung befangen
war, verrathen sie dabei unverkennbar; wir können uns zum Beweise auf die
Anführung der Worte beschränken "Nichts ist verkehrter als die Anmaßung,
epische Gedichte dichten oder gar erdichten zu wollen, als welche sich nur selbst
zu dichten vermögen".

Unterdeß hatten sich Grimms äußere Verhältnisse wesentlich gebessert. Noch
im Jahre 1808 erhielt er auf Johannes von Müllers Empfehlung die Aufsicht
über die schon vom Kurfürsten angelegte, jetzt königliche Privatbibliothek aus
Wilhelmshöhe, die ihm eine ausreichende Besoldung und vollständige Muße ge¬
währte. Der König Jerome wollte ihm persönlich wohl und ernannte ihn aus
eigenem Antriebe bald darauf auch zum Staatsrathsauditeur, was sein Ein¬
kommen noch verbesserte, ohne seine Muße wesentlich zu schmälern. Jetzt wandte
er alle seine Zeit auf seine Lieblingsstudien, die nun bereits vollständig dem
deutschen Alterthume zugewandt waren. Er befand sich darin in Uebereinstim¬
mung mit einer allgemeineren Richtung jener Zeit. Denn unter dem Drucke
der Fremdherrschaft besann man sich zuerst wieder auf das Vorhandensein einer
deutschen Nationalität, fühlte, daß es eine Solidarität der geistigen Gesammt-
interessen derselben gab, und flüchtete sich mit seinen Gedanken in die frühere
Geschichte der Nation, wo dieselben noch ohne Kummer weilen konnten. Ob¬
wohl Grimm persönlich unter der französischen Herrschaft nicht zu leiden hatte,
fühlte er den Druck derselben, namentlich des französischen Rechtes und der
französischen Sitte, darum nicht minder lebhaft, und sein Bruder Wilhelm hat
uns mit beredten Worten den Zusammenhang ihrer Studien mit jener Stim¬
mung der Zeit geschildert.

In den Jahren 1809 und 1810 war Jacob Grimm literarisch wenig thätig,
seine Zeit gehörte der Vertiefung seiner Studien, der Vorbereitung größerer
Arbeiten. Dann folgten mehre Jahre einer lebhaften gemeinsamen
Thätigkeit mit seinem Bruder Wilhelm. Wir erinnern uns, sie
waren mit einander zu ihrer Tante nach Kassel gegangen. Als Jacob 1802
die Universität bezog, mußte der um ein Jahr jüngere und überdies kränkelnde
Wilhelm in Kassel zurückbleiben. "Die Trennung von ihm", erzählt Jacob,
"mit dem ich stets in einer Stube gewohnt und in einem Bette geschlafen hatte,
ging mir sehr nahe." Sie waren dann im Jahre 1804 eine kurze Zeit in


Ur. 36) eröffnet bereits eine weite Perspektive in das Gebiet der vergleichen¬
den Sagentunde und zeugt schon von einem ausgedehnten Studium der ver¬
schiedenartigsten mittelalterlichen Quellen. Seine „Gedanken, wie sich die
Sagen zur Poesie und Geschichte verhalten" veröffentlichte Grimm dagegen in
der Zeitung für Einsiedler (1808 Ur. 19 u. 20). Sie enthalten in vorzüg¬
licher Darstellung die sinnig poetischen Grundgedanken, die seitdem seine wie
seines Bruders Wilhelm Thätigkeit auf diesem Gebiete beherrscht haben. Wie
sehr der Ausgangspunkt derselben noch in romantischer Verhüllung befangen
war, verrathen sie dabei unverkennbar; wir können uns zum Beweise auf die
Anführung der Worte beschränken „Nichts ist verkehrter als die Anmaßung,
epische Gedichte dichten oder gar erdichten zu wollen, als welche sich nur selbst
zu dichten vermögen".

Unterdeß hatten sich Grimms äußere Verhältnisse wesentlich gebessert. Noch
im Jahre 1808 erhielt er auf Johannes von Müllers Empfehlung die Aufsicht
über die schon vom Kurfürsten angelegte, jetzt königliche Privatbibliothek aus
Wilhelmshöhe, die ihm eine ausreichende Besoldung und vollständige Muße ge¬
währte. Der König Jerome wollte ihm persönlich wohl und ernannte ihn aus
eigenem Antriebe bald darauf auch zum Staatsrathsauditeur, was sein Ein¬
kommen noch verbesserte, ohne seine Muße wesentlich zu schmälern. Jetzt wandte
er alle seine Zeit auf seine Lieblingsstudien, die nun bereits vollständig dem
deutschen Alterthume zugewandt waren. Er befand sich darin in Uebereinstim¬
mung mit einer allgemeineren Richtung jener Zeit. Denn unter dem Drucke
der Fremdherrschaft besann man sich zuerst wieder auf das Vorhandensein einer
deutschen Nationalität, fühlte, daß es eine Solidarität der geistigen Gesammt-
interessen derselben gab, und flüchtete sich mit seinen Gedanken in die frühere
Geschichte der Nation, wo dieselben noch ohne Kummer weilen konnten. Ob¬
wohl Grimm persönlich unter der französischen Herrschaft nicht zu leiden hatte,
fühlte er den Druck derselben, namentlich des französischen Rechtes und der
französischen Sitte, darum nicht minder lebhaft, und sein Bruder Wilhelm hat
uns mit beredten Worten den Zusammenhang ihrer Studien mit jener Stim¬
mung der Zeit geschildert.

In den Jahren 1809 und 1810 war Jacob Grimm literarisch wenig thätig,
seine Zeit gehörte der Vertiefung seiner Studien, der Vorbereitung größerer
Arbeiten. Dann folgten mehre Jahre einer lebhaften gemeinsamen
Thätigkeit mit seinem Bruder Wilhelm. Wir erinnern uns, sie
waren mit einander zu ihrer Tante nach Kassel gegangen. Als Jacob 1802
die Universität bezog, mußte der um ein Jahr jüngere und überdies kränkelnde
Wilhelm in Kassel zurückbleiben. „Die Trennung von ihm", erzählt Jacob,
„mit dem ich stets in einer Stube gewohnt und in einem Bette geschlafen hatte,
ging mir sehr nahe." Sie waren dann im Jahre 1804 eine kurze Zeit in


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[0293] Ur. 36) eröffnet bereits eine weite Perspektive in das Gebiet der vergleichen¬ den Sagentunde und zeugt schon von einem ausgedehnten Studium der ver¬ schiedenartigsten mittelalterlichen Quellen. Seine „Gedanken, wie sich die Sagen zur Poesie und Geschichte verhalten" veröffentlichte Grimm dagegen in der Zeitung für Einsiedler (1808 Ur. 19 u. 20). Sie enthalten in vorzüg¬ licher Darstellung die sinnig poetischen Grundgedanken, die seitdem seine wie seines Bruders Wilhelm Thätigkeit auf diesem Gebiete beherrscht haben. Wie sehr der Ausgangspunkt derselben noch in romantischer Verhüllung befangen war, verrathen sie dabei unverkennbar; wir können uns zum Beweise auf die Anführung der Worte beschränken „Nichts ist verkehrter als die Anmaßung, epische Gedichte dichten oder gar erdichten zu wollen, als welche sich nur selbst zu dichten vermögen". Unterdeß hatten sich Grimms äußere Verhältnisse wesentlich gebessert. Noch im Jahre 1808 erhielt er auf Johannes von Müllers Empfehlung die Aufsicht über die schon vom Kurfürsten angelegte, jetzt königliche Privatbibliothek aus Wilhelmshöhe, die ihm eine ausreichende Besoldung und vollständige Muße ge¬ währte. Der König Jerome wollte ihm persönlich wohl und ernannte ihn aus eigenem Antriebe bald darauf auch zum Staatsrathsauditeur, was sein Ein¬ kommen noch verbesserte, ohne seine Muße wesentlich zu schmälern. Jetzt wandte er alle seine Zeit auf seine Lieblingsstudien, die nun bereits vollständig dem deutschen Alterthume zugewandt waren. Er befand sich darin in Uebereinstim¬ mung mit einer allgemeineren Richtung jener Zeit. Denn unter dem Drucke der Fremdherrschaft besann man sich zuerst wieder auf das Vorhandensein einer deutschen Nationalität, fühlte, daß es eine Solidarität der geistigen Gesammt- interessen derselben gab, und flüchtete sich mit seinen Gedanken in die frühere Geschichte der Nation, wo dieselben noch ohne Kummer weilen konnten. Ob¬ wohl Grimm persönlich unter der französischen Herrschaft nicht zu leiden hatte, fühlte er den Druck derselben, namentlich des französischen Rechtes und der französischen Sitte, darum nicht minder lebhaft, und sein Bruder Wilhelm hat uns mit beredten Worten den Zusammenhang ihrer Studien mit jener Stim¬ mung der Zeit geschildert. In den Jahren 1809 und 1810 war Jacob Grimm literarisch wenig thätig, seine Zeit gehörte der Vertiefung seiner Studien, der Vorbereitung größerer Arbeiten. Dann folgten mehre Jahre einer lebhaften gemeinsamen Thätigkeit mit seinem Bruder Wilhelm. Wir erinnern uns, sie waren mit einander zu ihrer Tante nach Kassel gegangen. Als Jacob 1802 die Universität bezog, mußte der um ein Jahr jüngere und überdies kränkelnde Wilhelm in Kassel zurückbleiben. „Die Trennung von ihm", erzählt Jacob, „mit dem ich stets in einer Stube gewohnt und in einem Bette geschlafen hatte, ging mir sehr nahe." Sie waren dann im Jahre 1804 eine kurze Zeit in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/293>, abgerufen am 15.01.2025.