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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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Vordergrund trat. Je phantastischer aber das Bild des Todtenreiches in der
Einbildungskrast des Volkes haften blieb, desto mehr Aberglaube drängte sich
auch ein in die Vorstellung von dem Verhältniß der Gestorbenen zur Oberwelt
und zu den Lebenden. Zunächst zeigt sich dies in der Leichtigkeit, mit welcher
die Geister durch die Pforte der Unterwelt schreiten, die ihnen früher so fest
verschlossen gewesen war. Diesen Zusammenhang der beiden Welten dachte man
sich besonders zu gewissen Zeiten recht stark. In Athen glaubte man, daß im
Frühling, wenn die Vegetation sich wieder zu regen begänne, auch die Geister
der Verstorbenen sich näher ans Licht drängten, und feierte deshalb am Dio¬
nysosfest der Anthesterien eine Axt Allerseelenfest, wo ihnen in Töpfen aller¬
hand gekochte Früchte als Opfer dargebracht wurden. In Rom beobachtete man
am 9., 11. und 13. Mai die Ceremonie der Lemuralien, um den Gespenster¬
spuk fern zu halten. Der Hausvater erhob sich dann um Mitternacht und ging
barfuß ins Freie, mit den Fingern Schnippchen schlagend, um die Schatten zu
verscheuchen. Wenn er sich hierauf in reinem Quellwasser die Hände gewaschen
hatte, nahm er schwarze Bohnen in den Mund, warf sie hinter sich und sprach,
ohne sich umzusehen: "Dieses sende ich Euch; mit diesen Bohnen kaufe ich mich
und die Meinigen los!" Nach neunmaliger Wiederholung dieser Worte, während
welcher, wie man annahm, die Geister hinter ihm die Bohnen auflasen, wusch
er sich abermals, schlug eherne Becken zusammen und rief wieder neunmal:
"Hinaus, ihr Geister der Ahnen!" Dann endlich durfte er sich umschauen; denn
nun war der Bann fest und dauerhaft. Aehnlich waren die Gebräuche an dem
im Februar gefeierten Todtenfest; denn auch von dieser Zeit sagt Ovid in den
Fasten: "Jetzt schweifen herum die luftigen Seelen und die Begrabenen. Jetzt
wird der Schatten bewirthet mit vorgesetzter Speise." Hatte an solchen Ter¬
minen die Geisterwelt Maskenfreiheit auf Erden, so bedürfte es außerdem be¬
sonderer Gründe, um sie zu veranlassen, einzelne Besuche abzustatten oder ge¬
wisse Orte unsicher zu machen. Man nahm bereits allgemein an, daß nicht
nur die eines ehrlichen Begräbnisses Beraubten, sondern auch die Mörder, Selbst¬
mörder und unschuldig Getödteten "umgingen". So erschien nach Ovid der
im Bruderzwiste erschlagene Remus seinen Verwandten und verlangte eine be¬
sondere Feier seines Todtestages als Sühne. In Temcsa, einer Stadt in Kala-
brien, spukte der Geist des Politos, eines Gefährten von Odysseus. den die
Einwohner wegen eines an einer Jungfrau verübten Frevels gesteinigt hatten.
Derselbe erzwang sich durch seine Bösartigkeit einen förmlichen Cultus, bis
endlich der berühmte Faustkämpfer Euthymos aus Lokri über ihn kam, furcht¬
los seinen Tempel, betrat und ihn im Zweikampf besiegte, woraus er sich ins
Meer stürzte. Den Argonauten erschien beim Vorüberfahren an der paphlago-
nischen Küste der Geist des Sthenelos, eines Gefährten des Herakles auf dem
Zuge gegen die Amazonen. Den messenischen Helden Aristomenes ließ sein


Grenzboten IV. 1863. ' 33

Vordergrund trat. Je phantastischer aber das Bild des Todtenreiches in der
Einbildungskrast des Volkes haften blieb, desto mehr Aberglaube drängte sich
auch ein in die Vorstellung von dem Verhältniß der Gestorbenen zur Oberwelt
und zu den Lebenden. Zunächst zeigt sich dies in der Leichtigkeit, mit welcher
die Geister durch die Pforte der Unterwelt schreiten, die ihnen früher so fest
verschlossen gewesen war. Diesen Zusammenhang der beiden Welten dachte man
sich besonders zu gewissen Zeiten recht stark. In Athen glaubte man, daß im
Frühling, wenn die Vegetation sich wieder zu regen begänne, auch die Geister
der Verstorbenen sich näher ans Licht drängten, und feierte deshalb am Dio¬
nysosfest der Anthesterien eine Axt Allerseelenfest, wo ihnen in Töpfen aller¬
hand gekochte Früchte als Opfer dargebracht wurden. In Rom beobachtete man
am 9., 11. und 13. Mai die Ceremonie der Lemuralien, um den Gespenster¬
spuk fern zu halten. Der Hausvater erhob sich dann um Mitternacht und ging
barfuß ins Freie, mit den Fingern Schnippchen schlagend, um die Schatten zu
verscheuchen. Wenn er sich hierauf in reinem Quellwasser die Hände gewaschen
hatte, nahm er schwarze Bohnen in den Mund, warf sie hinter sich und sprach,
ohne sich umzusehen: „Dieses sende ich Euch; mit diesen Bohnen kaufe ich mich
und die Meinigen los!" Nach neunmaliger Wiederholung dieser Worte, während
welcher, wie man annahm, die Geister hinter ihm die Bohnen auflasen, wusch
er sich abermals, schlug eherne Becken zusammen und rief wieder neunmal:
„Hinaus, ihr Geister der Ahnen!" Dann endlich durfte er sich umschauen; denn
nun war der Bann fest und dauerhaft. Aehnlich waren die Gebräuche an dem
im Februar gefeierten Todtenfest; denn auch von dieser Zeit sagt Ovid in den
Fasten: „Jetzt schweifen herum die luftigen Seelen und die Begrabenen. Jetzt
wird der Schatten bewirthet mit vorgesetzter Speise." Hatte an solchen Ter¬
minen die Geisterwelt Maskenfreiheit auf Erden, so bedürfte es außerdem be¬
sonderer Gründe, um sie zu veranlassen, einzelne Besuche abzustatten oder ge¬
wisse Orte unsicher zu machen. Man nahm bereits allgemein an, daß nicht
nur die eines ehrlichen Begräbnisses Beraubten, sondern auch die Mörder, Selbst¬
mörder und unschuldig Getödteten „umgingen". So erschien nach Ovid der
im Bruderzwiste erschlagene Remus seinen Verwandten und verlangte eine be¬
sondere Feier seines Todtestages als Sühne. In Temcsa, einer Stadt in Kala-
brien, spukte der Geist des Politos, eines Gefährten von Odysseus. den die
Einwohner wegen eines an einer Jungfrau verübten Frevels gesteinigt hatten.
Derselbe erzwang sich durch seine Bösartigkeit einen förmlichen Cultus, bis
endlich der berühmte Faustkämpfer Euthymos aus Lokri über ihn kam, furcht¬
los seinen Tempel, betrat und ihn im Zweikampf besiegte, woraus er sich ins
Meer stürzte. Den Argonauten erschien beim Vorüberfahren an der paphlago-
nischen Küste der Geist des Sthenelos, eines Gefährten des Herakles auf dem
Zuge gegen die Amazonen. Den messenischen Helden Aristomenes ließ sein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/265>, abgerufen am 15.01.2025.