Vorgeschützten volkstümlichen Motive der Rache für die der Familie des Ger¬ maniens zugefügten Unbilden: warum hätte dann Tiberius dessen zweiten Sohn nach wie vor im Kerker schmachten und ganze zwei Jahre nach dem Sturze des Sejcmus Hungers sterben lassen?
Stahr macht einmal die richtige, zu seiner sonstigen Charakterschilderung des Kaisers aber nicht recht passende Bemerkung: "wo ein Tiberius zu fürchten anfing, war der Gegenstand seiner Furcht ein verlorener Mann." Nun wohl, für diese und andere Grausamkeiten aus den letzten Jahren seiner Negierung gibt es nicht wohl einen andern Schlüssel als die bei einem absoluten Herr¬ scher in so gefahrvoller Lage, wie die des Tiberius war, sehr natürliche Furcht vor Kronprätendenten. Es ist ein Erfahrungssatz, daß Mißtrauen und Argwohn mit den Jahren zunehmen. Man wird unseres Erachtens dem Andenken des Tiberius gerecht, wenn man sagt, daß er ein ausgezeichneter Herrscher ge¬ wesen ist, dem die Schlechtigkeit der Zeiten unmöglich gemacht hat, zugleich ein ausgezeichneter Mensch zu sein.
Von diesem den Thatsachen entsprechenden und, wie wir meinen, psycho¬ logisch folgerichtigen Bilde weicht das, welches uns Tacitus überliefert hat, nicht gar so sehr ab. Wir geben zu, daß Tacitus, der im Herzen an den ari¬ stokratischen Traditionen der republikanischen Zeit hängt, unter dem Tiberius abholden Eindrücken aufgewachsen war und sich von deren Einflüsse nicht hat freimachen können; ja wir glauben sogar --worauf bisher noch nicht geachtet wor¬ den zu sein scheint -- daß er seiner in psychologischer Beziehung allerdings nicht unanfechtbaren Charakteristik des Tiberius unwillkürlich Züge aus dem BNde seines Nachahmers Domitianus einverleibthat: von diesem Zugeständnisse ist aber noch ein weiter Schritt bis zu der Annahme, daß die Geschichte des Tiberius in den An¬ nalen im Wesentlichen nur ein von der Parteilcidenschaft entworfenes Zerrbild ist.
Um den Werth des stahrschcn Buchs im Einzelnen festzustellen, wird man es, wozu hier nicht der Ort ist, mit dem Werke des Engländers Menvalc vergleichen müssen. Sein bleibt jedenfalls das Verdienst, uns in schöner Sprache ein anschauliches, von guter psychologischer Beobachtungsgabe zeugendes Zeit¬ gemälde gegeben zu haben. Dem Herrn Verfasser ist hier seine langjährige ausschließlich belletristische Thätigkeit sichtlich zu Statten gekommen, deren Schat¬ tenseiten allerdings auch nicht ganz fehlen: Ausdrücke wie "unsere modernen Hinkeldeys". ..Aristokratengcschmciß", der Schmerzensschrei über die Behandlung Kinkels bei Gelegenheit des Cremutius Cordus scheinen uns dem Griffel der historischen Muse nicht recht angemessen zu sein. Etwas weniger Eile bei der Herausgabe würde auch nichts geschadet haben: die Vermuthung, daß unter den von Tiberius, zehn Jahre vor Christi Auftreten, aus Rom verbannten Juden sich sicherlich auch manche fanatische Christen befunden hätten (S. 133), würde dann weggefallen sein, vielleicht auch das S. 291 ausgesprochene Be-
Vorgeschützten volkstümlichen Motive der Rache für die der Familie des Ger¬ maniens zugefügten Unbilden: warum hätte dann Tiberius dessen zweiten Sohn nach wie vor im Kerker schmachten und ganze zwei Jahre nach dem Sturze des Sejcmus Hungers sterben lassen?
Stahr macht einmal die richtige, zu seiner sonstigen Charakterschilderung des Kaisers aber nicht recht passende Bemerkung: „wo ein Tiberius zu fürchten anfing, war der Gegenstand seiner Furcht ein verlorener Mann." Nun wohl, für diese und andere Grausamkeiten aus den letzten Jahren seiner Negierung gibt es nicht wohl einen andern Schlüssel als die bei einem absoluten Herr¬ scher in so gefahrvoller Lage, wie die des Tiberius war, sehr natürliche Furcht vor Kronprätendenten. Es ist ein Erfahrungssatz, daß Mißtrauen und Argwohn mit den Jahren zunehmen. Man wird unseres Erachtens dem Andenken des Tiberius gerecht, wenn man sagt, daß er ein ausgezeichneter Herrscher ge¬ wesen ist, dem die Schlechtigkeit der Zeiten unmöglich gemacht hat, zugleich ein ausgezeichneter Mensch zu sein.
Von diesem den Thatsachen entsprechenden und, wie wir meinen, psycho¬ logisch folgerichtigen Bilde weicht das, welches uns Tacitus überliefert hat, nicht gar so sehr ab. Wir geben zu, daß Tacitus, der im Herzen an den ari¬ stokratischen Traditionen der republikanischen Zeit hängt, unter dem Tiberius abholden Eindrücken aufgewachsen war und sich von deren Einflüsse nicht hat freimachen können; ja wir glauben sogar —worauf bisher noch nicht geachtet wor¬ den zu sein scheint — daß er seiner in psychologischer Beziehung allerdings nicht unanfechtbaren Charakteristik des Tiberius unwillkürlich Züge aus dem BNde seines Nachahmers Domitianus einverleibthat: von diesem Zugeständnisse ist aber noch ein weiter Schritt bis zu der Annahme, daß die Geschichte des Tiberius in den An¬ nalen im Wesentlichen nur ein von der Parteilcidenschaft entworfenes Zerrbild ist.
Um den Werth des stahrschcn Buchs im Einzelnen festzustellen, wird man es, wozu hier nicht der Ort ist, mit dem Werke des Engländers Menvalc vergleichen müssen. Sein bleibt jedenfalls das Verdienst, uns in schöner Sprache ein anschauliches, von guter psychologischer Beobachtungsgabe zeugendes Zeit¬ gemälde gegeben zu haben. Dem Herrn Verfasser ist hier seine langjährige ausschließlich belletristische Thätigkeit sichtlich zu Statten gekommen, deren Schat¬ tenseiten allerdings auch nicht ganz fehlen: Ausdrücke wie „unsere modernen Hinkeldeys". ..Aristokratengcschmciß", der Schmerzensschrei über die Behandlung Kinkels bei Gelegenheit des Cremutius Cordus scheinen uns dem Griffel der historischen Muse nicht recht angemessen zu sein. Etwas weniger Eile bei der Herausgabe würde auch nichts geschadet haben: die Vermuthung, daß unter den von Tiberius, zehn Jahre vor Christi Auftreten, aus Rom verbannten Juden sich sicherlich auch manche fanatische Christen befunden hätten (S. 133), würde dann weggefallen sein, vielleicht auch das S. 291 ausgesprochene Be-
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Vorgeschützten volkstümlichen Motive der Rache für die der Familie des Ger¬
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Sohn nach wie vor im Kerker schmachten und ganze zwei Jahre nach dem
Sturze des Sejcmus Hungers sterben lassen?
Stahr macht einmal die richtige, zu seiner sonstigen Charakterschilderung
des Kaisers aber nicht recht passende Bemerkung: „wo ein Tiberius zu fürchten
anfing, war der Gegenstand seiner Furcht ein verlorener Mann." Nun wohl,
für diese und andere Grausamkeiten aus den letzten Jahren seiner Negierung
gibt es nicht wohl einen andern Schlüssel als die bei einem absoluten Herr¬
scher in so gefahrvoller Lage, wie die des Tiberius war, sehr natürliche Furcht
vor Kronprätendenten. Es ist ein Erfahrungssatz, daß Mißtrauen und Argwohn
mit den Jahren zunehmen. Man wird unseres Erachtens dem Andenken des
Tiberius gerecht, wenn man sagt, daß er ein ausgezeichneter Herrscher ge¬
wesen ist, dem die Schlechtigkeit der Zeiten unmöglich gemacht hat, zugleich
ein ausgezeichneter Mensch zu sein.
Von diesem den Thatsachen entsprechenden und, wie wir meinen, psycho¬
logisch folgerichtigen Bilde weicht das, welches uns Tacitus überliefert hat,
nicht gar so sehr ab. Wir geben zu, daß Tacitus, der im Herzen an den ari¬
stokratischen Traditionen der republikanischen Zeit hängt, unter dem Tiberius
abholden Eindrücken aufgewachsen war und sich von deren Einflüsse nicht hat
freimachen können; ja wir glauben sogar —worauf bisher noch nicht geachtet wor¬
den zu sein scheint — daß er seiner in psychologischer Beziehung allerdings nicht
unanfechtbaren Charakteristik des Tiberius unwillkürlich Züge aus dem BNde seines
Nachahmers Domitianus einverleibthat: von diesem Zugeständnisse ist aber noch
ein weiter Schritt bis zu der Annahme, daß die Geschichte des Tiberius in den An¬
nalen im Wesentlichen nur ein von der Parteilcidenschaft entworfenes Zerrbild ist.
Um den Werth des stahrschcn Buchs im Einzelnen festzustellen, wird
man es, wozu hier nicht der Ort ist, mit dem Werke des Engländers Menvalc
vergleichen müssen. Sein bleibt jedenfalls das Verdienst, uns in schöner Sprache
ein anschauliches, von guter psychologischer Beobachtungsgabe zeugendes Zeit¬
gemälde gegeben zu haben. Dem Herrn Verfasser ist hier seine langjährige
ausschließlich belletristische Thätigkeit sichtlich zu Statten gekommen, deren Schat¬
tenseiten allerdings auch nicht ganz fehlen: Ausdrücke wie „unsere modernen
Hinkeldeys". ..Aristokratengcschmciß", der Schmerzensschrei über die Behandlung
Kinkels bei Gelegenheit des Cremutius Cordus scheinen uns dem Griffel der
historischen Muse nicht recht angemessen zu sein. Etwas weniger Eile bei der
Herausgabe würde auch nichts geschadet haben: die Vermuthung, daß unter
den von Tiberius, zehn Jahre vor Christi Auftreten, aus Rom verbannten
Juden sich sicherlich auch manche fanatische Christen befunden hätten (S. 133),
würde dann weggefallen sein, vielleicht auch das S. 291 ausgesprochene Be-
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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/23>, abgerufen am 23.01.2025.
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