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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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er den Schülern als Mittel der Abschreckung von Liederlichkeit hätte dienen sollen,
nichts zu wünschen übriggelassen. Hier stand ein altes Gestell, das früher als
Bett gedient hatte, dort ein zerbrochner Kinderwagen. Tisch und Fußboden
waren mit Büchern und Noten in wildem Durcheinander übersäet. Ein um¬
geworfenes Tintenfaß hatte seinen Inhalt über Bücher, Noten und Landkarten
ergossen. Mehre Bücher und Noten waren zerrissen, zum Theil wahrscheinlich
von Hunden zerzaust. Ein Leuchter war vom Tische gefallen, und sein ab-
gebrochner Lichtstummcl lag unter den Büchern. Ein mit Butter bestrichnes
Biscuit war angebissen und dann unter die Bücher geworfen worden. Eine
Wichsschachtel lag ebenfalls auf dem Boden, während die Wichsbürste auf dem
Piano lag. An zerbrochnen Fensterscheiben fehlte es natürlich auch nicht, und
Schmutz deckte die Dielen, dicker Staub das Piano.

Ich war noch in Betrachtung dieses Chaos versunken, als meine Lady
erschien. Sie war ein großes Mädchen von neunzehn Jahren und spielte an¬
geblich sehr gut Piano, schien mir aber sehr überspannt zu sein. Sie öffnete
nach ihrem Eintritt ein Büchschen, das eine schnupftabakähnliche Masse ent¬
hielt, tupfte mit einem Stutzpinselchen hinein, strich sich die Masse auf die
Zähne und fing an zu kauen. Als sie mit dieser Operation fertig war, fragte
ich sie, was sie gespielt habe, um mich über den Grad ihrer Leistungen zu ver¬
gewissern. Sie suchte ein Musikstück heraus, legte es auf den Nvtenhalter und
sagte: "Professor, spielen Sie mir das 'mal vor." Ich sah mir das Ding an
und erschrak nicht wenig, als ich darin die schwerste Bearbeitung des Karne¬
vals von Venedig -- ich weiß nicht mehr, von wem sie war -- erblickte.
Nicht zwei Tacte davon hätte ich spielen können. Am ganzen Leibe zitternd,
starrte ich das Stück an und blätterte mechanisch darin herum. "Vorwärts,
Professor!" sagte sie endlich.

"Meine Lady," antwortete ich radebrechend, indem ich aus meiner Be¬
täubung auffuhr, "ich bin nicht zum Vortragen, nur zum Lehren da. Spielen
Sie das Stück gefälligst selbst."

Dazu hatte sie aber keine Neigung. Sie nahm vielmehr ein beliebiges'
andres Stück vor. Ich fand, daß sie ziemlich schwere Sachen spielte, aber
wahrhaft abscheulich vortrug. Ueberdies pflegte sie jeden Theil, der ihr nicht
zusagte, mit den Worten: "Das ist ekelig!" zu überschlagen. Ich hätte mich
auf den Kopf stellen können, sie hätte keinen Theil gespielt, der ihr nicht ge¬
fiel. So mußte ich sie freilich gehen lassen. Die Folge war, daß man, als
sie in der nächsten Soiree ein Stück vortrug, mir allgemein sagte, es sei zum
Davonlaufen gewesen, eine Bemerkung, die ich ohnedies schon für mich selbst
gemacht hatte.

Ein Stein siel mir vom Herzen, als die erste Lection mit diesem Fräulein
überstanden war. Die Lectionen dauerten zum Glück blos eine halbe Stunde.


er den Schülern als Mittel der Abschreckung von Liederlichkeit hätte dienen sollen,
nichts zu wünschen übriggelassen. Hier stand ein altes Gestell, das früher als
Bett gedient hatte, dort ein zerbrochner Kinderwagen. Tisch und Fußboden
waren mit Büchern und Noten in wildem Durcheinander übersäet. Ein um¬
geworfenes Tintenfaß hatte seinen Inhalt über Bücher, Noten und Landkarten
ergossen. Mehre Bücher und Noten waren zerrissen, zum Theil wahrscheinlich
von Hunden zerzaust. Ein Leuchter war vom Tische gefallen, und sein ab-
gebrochner Lichtstummcl lag unter den Büchern. Ein mit Butter bestrichnes
Biscuit war angebissen und dann unter die Bücher geworfen worden. Eine
Wichsschachtel lag ebenfalls auf dem Boden, während die Wichsbürste auf dem
Piano lag. An zerbrochnen Fensterscheiben fehlte es natürlich auch nicht, und
Schmutz deckte die Dielen, dicker Staub das Piano.

Ich war noch in Betrachtung dieses Chaos versunken, als meine Lady
erschien. Sie war ein großes Mädchen von neunzehn Jahren und spielte an¬
geblich sehr gut Piano, schien mir aber sehr überspannt zu sein. Sie öffnete
nach ihrem Eintritt ein Büchschen, das eine schnupftabakähnliche Masse ent¬
hielt, tupfte mit einem Stutzpinselchen hinein, strich sich die Masse auf die
Zähne und fing an zu kauen. Als sie mit dieser Operation fertig war, fragte
ich sie, was sie gespielt habe, um mich über den Grad ihrer Leistungen zu ver¬
gewissern. Sie suchte ein Musikstück heraus, legte es auf den Nvtenhalter und
sagte: „Professor, spielen Sie mir das 'mal vor." Ich sah mir das Ding an
und erschrak nicht wenig, als ich darin die schwerste Bearbeitung des Karne¬
vals von Venedig — ich weiß nicht mehr, von wem sie war — erblickte.
Nicht zwei Tacte davon hätte ich spielen können. Am ganzen Leibe zitternd,
starrte ich das Stück an und blätterte mechanisch darin herum. „Vorwärts,
Professor!" sagte sie endlich.

„Meine Lady," antwortete ich radebrechend, indem ich aus meiner Be¬
täubung auffuhr, „ich bin nicht zum Vortragen, nur zum Lehren da. Spielen
Sie das Stück gefälligst selbst."

Dazu hatte sie aber keine Neigung. Sie nahm vielmehr ein beliebiges'
andres Stück vor. Ich fand, daß sie ziemlich schwere Sachen spielte, aber
wahrhaft abscheulich vortrug. Ueberdies pflegte sie jeden Theil, der ihr nicht
zusagte, mit den Worten: „Das ist ekelig!" zu überschlagen. Ich hätte mich
auf den Kopf stellen können, sie hätte keinen Theil gespielt, der ihr nicht ge¬
fiel. So mußte ich sie freilich gehen lassen. Die Folge war, daß man, als
sie in der nächsten Soiree ein Stück vortrug, mir allgemein sagte, es sei zum
Davonlaufen gewesen, eine Bemerkung, die ich ohnedies schon für mich selbst
gemacht hatte.

Ein Stein siel mir vom Herzen, als die erste Lection mit diesem Fräulein
überstanden war. Die Lectionen dauerten zum Glück blos eine halbe Stunde.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/198>, abgerufen am 15.01.2025.