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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Wir begannen von neuem; ich
trat mit aller Macht körte, übertäubte durch mein rasendes Trommeln auf dem
Instrumente die beiden Geigen -- und das Publicum schien ganz außerordent¬
lich erbaut davon zu sein.

Am folgenden Tage begann die Schule. Noch ehe die Glocke geläutet
wurde, tarnen mehre Mädchen zu Pferde herangesprengt. Bisweilen saßen de¬
ren zwei auf einem Gaul. Es waren sogenannte Tagesschülerinncn, die nicht
im Institute wohnten, sondern nur die Stunden besuchten. Ich hatte noch
nichts zu thun und beschloß, den Lectionen beizuwohnen. Sonderbares Schule-
Halten! Aus einem Podium, das an der südlichen, schmalen Seite der Schul-
stube hinlief, stand der Principal im unglaublichsten Negligü. Er trug nieder¬
getretene Hausschuhe. Sein stellenweis zerrißner Rock war an den Aermel-
rändern aufgetroddelt, sein Haar nicht gekämmt, sondern mit den Fingern wirr
emporgcstrichen. Aus seinem Munde ragte eine schmutzige Rohrpfeife; außerdem
führte er noch den landesüblichen Knäuel Kautabak im Munde und warf bald
Rauchwolken, bald Tabaksjauche aus. Und in dieser Verfassung hielt er --
sehr eigenthümlich, aber wahr -- einen Vortrag über äußern Anstand und ver¬
anschaulichte denselben durch entsprechende Körperbewegungen, die oft lautes
Gelächter unter den Schülern hervorriefen. Mit diesem Aufzuge Verglich ich
eine Stelle aus dem "Alabama Planier" vom 17. Juli 1858, worin Herr
Poindexter als ein vollendeter Gentleman vom feinsten Schliff geschildert
wurde.

Aber unser Principal, der mit seiner gewaltigen Stimme den ganzen
Schulraum erfüllte, war nicht die einzige thätige Lehrkraft in demselben. In
einem Winkel stand eine Lehrerin vor einem kleinen Kreis von Schülern, de¬
nen sie Geschichte vortrug. In einem andern Winkel befand sich Oliva und
lehrte vier Zöglingen die italienische Sprache. In der Nähe des Principales
gab der Franzose Unterricht im Französischen. Dieses gleichzeitige Zusammen¬
wirken von vier Lehrkräften, die oft gleichzeitigen Antworten von vier Classen
in vier verschiedenen Unterrichtszweigen, die Klänge eines Pianos, das un¬
mittelbar neben der Schulstube von einem Zögling gespielt wurde, alles das
schien mir der Aufmerksamkeit der Schüler außerordentlich zuträglich zu sein.

Als ungefähr acht Tage verstrichen waren, erhielt auch ich Beschäftigung,
und zwar als Musiklehrer. Ich ging in den sogenannten Parlour, ein ge¬
räumiges Zimmer, in welchem ein Piano stand, auf dem ich Unterricht geben
sollte. Aber was erblickten meine Augen? -- Hatte mich schon der Zustand des
großen Lesesaales befremdet, in welchem die Bücher der Schulbibliothek mit den
Büchern der Schüler wüst durcheinandergeworfen waren, während dicker Staub
auf Tischen und Stühlen lag, so herrschte doch hier gegen den Parlour noch ver-
haltnißmäßige Ordnung und Sauberkeit. Denn der letztere hätte nur dann, wenn


Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Wir begannen von neuem; ich
trat mit aller Macht körte, übertäubte durch mein rasendes Trommeln auf dem
Instrumente die beiden Geigen — und das Publicum schien ganz außerordent¬
lich erbaut davon zu sein.

Am folgenden Tage begann die Schule. Noch ehe die Glocke geläutet
wurde, tarnen mehre Mädchen zu Pferde herangesprengt. Bisweilen saßen de¬
ren zwei auf einem Gaul. Es waren sogenannte Tagesschülerinncn, die nicht
im Institute wohnten, sondern nur die Stunden besuchten. Ich hatte noch
nichts zu thun und beschloß, den Lectionen beizuwohnen. Sonderbares Schule-
Halten! Aus einem Podium, das an der südlichen, schmalen Seite der Schul-
stube hinlief, stand der Principal im unglaublichsten Negligü. Er trug nieder¬
getretene Hausschuhe. Sein stellenweis zerrißner Rock war an den Aermel-
rändern aufgetroddelt, sein Haar nicht gekämmt, sondern mit den Fingern wirr
emporgcstrichen. Aus seinem Munde ragte eine schmutzige Rohrpfeife; außerdem
führte er noch den landesüblichen Knäuel Kautabak im Munde und warf bald
Rauchwolken, bald Tabaksjauche aus. Und in dieser Verfassung hielt er —
sehr eigenthümlich, aber wahr — einen Vortrag über äußern Anstand und ver¬
anschaulichte denselben durch entsprechende Körperbewegungen, die oft lautes
Gelächter unter den Schülern hervorriefen. Mit diesem Aufzuge Verglich ich
eine Stelle aus dem „Alabama Planier" vom 17. Juli 1858, worin Herr
Poindexter als ein vollendeter Gentleman vom feinsten Schliff geschildert
wurde.

Aber unser Principal, der mit seiner gewaltigen Stimme den ganzen
Schulraum erfüllte, war nicht die einzige thätige Lehrkraft in demselben. In
einem Winkel stand eine Lehrerin vor einem kleinen Kreis von Schülern, de¬
nen sie Geschichte vortrug. In einem andern Winkel befand sich Oliva und
lehrte vier Zöglingen die italienische Sprache. In der Nähe des Principales
gab der Franzose Unterricht im Französischen. Dieses gleichzeitige Zusammen¬
wirken von vier Lehrkräften, die oft gleichzeitigen Antworten von vier Classen
in vier verschiedenen Unterrichtszweigen, die Klänge eines Pianos, das un¬
mittelbar neben der Schulstube von einem Zögling gespielt wurde, alles das
schien mir der Aufmerksamkeit der Schüler außerordentlich zuträglich zu sein.

Als ungefähr acht Tage verstrichen waren, erhielt auch ich Beschäftigung,
und zwar als Musiklehrer. Ich ging in den sogenannten Parlour, ein ge¬
räumiges Zimmer, in welchem ein Piano stand, auf dem ich Unterricht geben
sollte. Aber was erblickten meine Augen? — Hatte mich schon der Zustand des
großen Lesesaales befremdet, in welchem die Bücher der Schulbibliothek mit den
Büchern der Schüler wüst durcheinandergeworfen waren, während dicker Staub
auf Tischen und Stühlen lag, so herrschte doch hier gegen den Parlour noch ver-
haltnißmäßige Ordnung und Sauberkeit. Denn der letztere hätte nur dann, wenn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/197>, abgerufen am 15.01.2025.