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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Denkens, sondern sehr unfertig war und vermischt mit dem geheimen Schauder
über ihre eigne Sündhaftigkeit. Nicht blos die schönen "hebräischen Melodien"
lassen uns ahnen, daß der Mann sich noch erbaute an den frommen Helden¬
gestalten der Bibel, die der Knabe sich von seiner Amme schildern ließ. An
unzähligen Stellen seiner Werke verräth sich, dem Dichter unbewußt, die stille
Reue über den verlorenen Seelenfrieden. Seine geliebte Allegra ließ er katho¬
lisch erziehen und entfernte das Kind sorglich von den freigcistigen Gesprächen
Shelleys und seiner Gattin. Wir schließen daraus nicht -- wie Walter Scott,
der Byron nie durchschaut hat -- daß der Dichter bei längerem Leben sich
selber zur katholischen Kirche bekehrt haben würde, doch bleibt die innere Un¬
sicherheit seines religiösen Freisinns unzweifelhaft. Aber die Romantik war nur
ein ohnmächtiger Versuch, eine durch die ernste Geistesarbeit dreier Jahrhunderte
überwundene Weltanschauung wieder zu beleben. Da genügte es, wenn nur
ein Dichter keck verneinend der Phantasterei entgegentrat, wenn er nur!ändert
die Welt erinnerte, welche Schätze geistiger Freiheit sie längst besaß; schon vor
dem lustigen Geprassel des Witzes mußten die Spukgcbilde der Romantik
entfliehen.

Ebenso ist die Wirkung der Gedichte Byrons auf die Zeitgenossen durch
ihre künstlerischen Mängel nicht beeinträchtigt, ja oftmals verstärkt worden.
Der Sinn für die Komposition der Kunstwerke ist heute wieder etwas empfind¬
licher; wir erwarten in jedem Gedicht eine stetig anschwellende Handlung,
einen kräftigen Abschluß. Darum erscheinen uns, trotz aller Pracht der Schil¬
derungen, trotz aller glänzenden Einfälle in den Abschweifungen, manche Ge¬
sänge des Childe Harold entschieden langweilig durch ihren fragmentarischen
Charakter. Und bewundern wir Byrons unerschöpflichen Reichthum an immer
neuen Bildern und Gedanken, so erkältet uns seine Armuth in der Erfindung
der Handlung. Unser froherer Weltsinn findet wieder Freude an der Eigenart
mannigfaltiger Charaktere, und wir ermüden gar leicht, wenn in Byrons Ge¬
dichten (mit einziger Ausnahme des Don Juan, der auch nach dieser Richtung
einen ungeheuren Fortschritt zeigt) das schwache, liebende Weib und der melan¬
cholische Held immer wiederkehren. Und auch diese beiden Charaktere erscheinen
uns verschwommen und sehr unbestimmt; wir fragen nach dem Warum? wenn
Byrons Held seinem Mädchen sagt: "ich liebe dich nicht mehr, wenn ich die
Menschheit liebe." Die harte Arbeit in Staat und Wirthschaft hat uns wieder
gewöhnt an das helle Mittagslicht, wir sehnen uns oftmals hinweg aus dem
ewigen Halbdunkel, das Byrons Gestalten beleuchtet. Und am schmerzlichsten
vermißt die Gegenwart mit ihrem lebendigen Sinne für das Drama in dem
großen Dichter jede dramatische Begabung. An Byrons Dramen am klarsten
läßt sich verstehen, daß die Leidenschaft allein der Nerv des Dramatikers nicht
ist; sie bleibt wirkungslos, wo die gewaltig bewegte Handlung fehlt. Versucht


Denkens, sondern sehr unfertig war und vermischt mit dem geheimen Schauder
über ihre eigne Sündhaftigkeit. Nicht blos die schönen „hebräischen Melodien"
lassen uns ahnen, daß der Mann sich noch erbaute an den frommen Helden¬
gestalten der Bibel, die der Knabe sich von seiner Amme schildern ließ. An
unzähligen Stellen seiner Werke verräth sich, dem Dichter unbewußt, die stille
Reue über den verlorenen Seelenfrieden. Seine geliebte Allegra ließ er katho¬
lisch erziehen und entfernte das Kind sorglich von den freigcistigen Gesprächen
Shelleys und seiner Gattin. Wir schließen daraus nicht — wie Walter Scott,
der Byron nie durchschaut hat — daß der Dichter bei längerem Leben sich
selber zur katholischen Kirche bekehrt haben würde, doch bleibt die innere Un¬
sicherheit seines religiösen Freisinns unzweifelhaft. Aber die Romantik war nur
ein ohnmächtiger Versuch, eine durch die ernste Geistesarbeit dreier Jahrhunderte
überwundene Weltanschauung wieder zu beleben. Da genügte es, wenn nur
ein Dichter keck verneinend der Phantasterei entgegentrat, wenn er nur!ändert
die Welt erinnerte, welche Schätze geistiger Freiheit sie längst besaß; schon vor
dem lustigen Geprassel des Witzes mußten die Spukgcbilde der Romantik
entfliehen.

Ebenso ist die Wirkung der Gedichte Byrons auf die Zeitgenossen durch
ihre künstlerischen Mängel nicht beeinträchtigt, ja oftmals verstärkt worden.
Der Sinn für die Komposition der Kunstwerke ist heute wieder etwas empfind¬
licher; wir erwarten in jedem Gedicht eine stetig anschwellende Handlung,
einen kräftigen Abschluß. Darum erscheinen uns, trotz aller Pracht der Schil¬
derungen, trotz aller glänzenden Einfälle in den Abschweifungen, manche Ge¬
sänge des Childe Harold entschieden langweilig durch ihren fragmentarischen
Charakter. Und bewundern wir Byrons unerschöpflichen Reichthum an immer
neuen Bildern und Gedanken, so erkältet uns seine Armuth in der Erfindung
der Handlung. Unser froherer Weltsinn findet wieder Freude an der Eigenart
mannigfaltiger Charaktere, und wir ermüden gar leicht, wenn in Byrons Ge¬
dichten (mit einziger Ausnahme des Don Juan, der auch nach dieser Richtung
einen ungeheuren Fortschritt zeigt) das schwache, liebende Weib und der melan¬
cholische Held immer wiederkehren. Und auch diese beiden Charaktere erscheinen
uns verschwommen und sehr unbestimmt; wir fragen nach dem Warum? wenn
Byrons Held seinem Mädchen sagt: „ich liebe dich nicht mehr, wenn ich die
Menschheit liebe." Die harte Arbeit in Staat und Wirthschaft hat uns wieder
gewöhnt an das helle Mittagslicht, wir sehnen uns oftmals hinweg aus dem
ewigen Halbdunkel, das Byrons Gestalten beleuchtet. Und am schmerzlichsten
vermißt die Gegenwart mit ihrem lebendigen Sinne für das Drama in dem
großen Dichter jede dramatische Begabung. An Byrons Dramen am klarsten
läßt sich verstehen, daß die Leidenschaft allein der Nerv des Dramatikers nicht
ist; sie bleibt wirkungslos, wo die gewaltig bewegte Handlung fehlt. Versucht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/60>, abgerufen am 27.07.2024.