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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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In Schlesien und Posen ist das Krieger Gesangbuch das herrschende. Es eilt.
hält mit den Anhängen 572 Lieder, meist Übersetzungen, zum Theil abweichend
von den Übertragungen des preußischen Gesangbuches.

Daß die evangelische Kirche Polens in ihrer Blüthezeit sich nicht blos an
Uebersetzungen aus den Psalmen und aus dem Schatze des deutschen Kirchen¬
liedes hat genügen lassen, sondern daß sie auch eine Fülle eigener Dichtungen
hervorgebracht hat, welche in einem großen Theile ihres Gebietes noch
fortgesungen werden, ist schon angedeutet. In diesen Originaldichtungen spie¬
geln sich die Grundzüge des polnischen Nationalcharakters getreu ab: der
heitere, ungezwungene Ton, der weniger bei der Verlorenheit, als bei der
Erlösung des Menschengeschlechts verweilt, das stolze Hervorheben und die
Ausmalung des Königthums Christi, das kriegerische Wohlgefallen an dem
Kampfe desselben mit dem Teufel und an dessen Ueberwinden, und der freudige
Stolz, mit welchem die Mitherrschaft und die Mitregentschaft der Erlösten neben
Gott und Christo ni der ewigen Herrlichkeit, als ein Erbtheil des armen Bauern
nicht minder, wie des Edelmanns gepriesen wird. Eine besondere Eigenthüm¬
lichkeit des polnischen Kirchenliedes aber ist das Borwiegen des musikalischen
Charakters, dem mitunter der Gedankeninhalt sich beugen muß. Es waren no¬
torisch nicht sowohl die Kirchenlieder, als die wunderschönen Melodieen dersel¬
ben, welche dem Protestantismus in Polen eine so glückliche Ausnahme berei¬
teten. Noch heute sitzt >n manchen Gemeinden Sonntags der evangelische Pole vor
der Dorfkirche und wartet stundenlang auf ihre Oeffnung, während er ein Lied
seines Gesangbuches nach dem andern hinsingt, gleichviel, ob es Psingst-, Be¬
gräbnis; oder Weihnachtslieder sind.

Das Kirchenlied führt uns auf den Kirchengesang. Ein großer Theil der
polnischen Kirchenmelodieen ist aus der deutschen Sangesweise übernommen.
Aber das evangelische Polen ist auch reich an eigenen Kirchenmelodieen. Jhre
Heimath ist, wie bei den Kirchenliedern, vorzugsweise das preußische Polen,
während Schlesien-seine polnischen Nationaimelvbieen von dort her empfangen
hat. Die Hauptquellen dieser alten Melodieen sind das thorner Cantionai von
1601, ferner das von 1646, das dcmziger von 1642 und das rybinskische von
1646. Im vorigen Jahrhundert ist Masuren an Melodieen verarmt, für die
Hälfte der Lieder ist die Sangesweise verloren gegangen, während Schlesien
eine falsche Bereicherung durch willkürliche Veränderungen der alten Melodieen
erfahren hat, dergestalt, daß auf die 372 Lieder des bricger Gesangbuchs nicht
weniger als 1600 Melodieen existiren.

Auße-r dem hier Genannten liegen noch manche Schätze der polnischen geist¬
lichen Literatur in Manuscripten und alten Drucken verborgen. Man rühmt
von ihr. daß sie classisch, tief und vor Allem national sei.

Für die Bildung polnischer Lehrer wird in Preußen durch das Seminar


In Schlesien und Posen ist das Krieger Gesangbuch das herrschende. Es eilt.
hält mit den Anhängen 572 Lieder, meist Übersetzungen, zum Theil abweichend
von den Übertragungen des preußischen Gesangbuches.

Daß die evangelische Kirche Polens in ihrer Blüthezeit sich nicht blos an
Uebersetzungen aus den Psalmen und aus dem Schatze des deutschen Kirchen¬
liedes hat genügen lassen, sondern daß sie auch eine Fülle eigener Dichtungen
hervorgebracht hat, welche in einem großen Theile ihres Gebietes noch
fortgesungen werden, ist schon angedeutet. In diesen Originaldichtungen spie¬
geln sich die Grundzüge des polnischen Nationalcharakters getreu ab: der
heitere, ungezwungene Ton, der weniger bei der Verlorenheit, als bei der
Erlösung des Menschengeschlechts verweilt, das stolze Hervorheben und die
Ausmalung des Königthums Christi, das kriegerische Wohlgefallen an dem
Kampfe desselben mit dem Teufel und an dessen Ueberwinden, und der freudige
Stolz, mit welchem die Mitherrschaft und die Mitregentschaft der Erlösten neben
Gott und Christo ni der ewigen Herrlichkeit, als ein Erbtheil des armen Bauern
nicht minder, wie des Edelmanns gepriesen wird. Eine besondere Eigenthüm¬
lichkeit des polnischen Kirchenliedes aber ist das Borwiegen des musikalischen
Charakters, dem mitunter der Gedankeninhalt sich beugen muß. Es waren no¬
torisch nicht sowohl die Kirchenlieder, als die wunderschönen Melodieen dersel¬
ben, welche dem Protestantismus in Polen eine so glückliche Ausnahme berei¬
teten. Noch heute sitzt >n manchen Gemeinden Sonntags der evangelische Pole vor
der Dorfkirche und wartet stundenlang auf ihre Oeffnung, während er ein Lied
seines Gesangbuches nach dem andern hinsingt, gleichviel, ob es Psingst-, Be¬
gräbnis; oder Weihnachtslieder sind.

Das Kirchenlied führt uns auf den Kirchengesang. Ein großer Theil der
polnischen Kirchenmelodieen ist aus der deutschen Sangesweise übernommen.
Aber das evangelische Polen ist auch reich an eigenen Kirchenmelodieen. Jhre
Heimath ist, wie bei den Kirchenliedern, vorzugsweise das preußische Polen,
während Schlesien-seine polnischen Nationaimelvbieen von dort her empfangen
hat. Die Hauptquellen dieser alten Melodieen sind das thorner Cantionai von
1601, ferner das von 1646, das dcmziger von 1642 und das rybinskische von
1646. Im vorigen Jahrhundert ist Masuren an Melodieen verarmt, für die
Hälfte der Lieder ist die Sangesweise verloren gegangen, während Schlesien
eine falsche Bereicherung durch willkürliche Veränderungen der alten Melodieen
erfahren hat, dergestalt, daß auf die 372 Lieder des bricger Gesangbuchs nicht
weniger als 1600 Melodieen existiren.

Auße-r dem hier Genannten liegen noch manche Schätze der polnischen geist¬
lichen Literatur in Manuscripten und alten Drucken verborgen. Man rühmt
von ihr. daß sie classisch, tief und vor Allem national sei.

Für die Bildung polnischer Lehrer wird in Preußen durch das Seminar


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[0465] In Schlesien und Posen ist das Krieger Gesangbuch das herrschende. Es eilt. hält mit den Anhängen 572 Lieder, meist Übersetzungen, zum Theil abweichend von den Übertragungen des preußischen Gesangbuches. Daß die evangelische Kirche Polens in ihrer Blüthezeit sich nicht blos an Uebersetzungen aus den Psalmen und aus dem Schatze des deutschen Kirchen¬ liedes hat genügen lassen, sondern daß sie auch eine Fülle eigener Dichtungen hervorgebracht hat, welche in einem großen Theile ihres Gebietes noch fortgesungen werden, ist schon angedeutet. In diesen Originaldichtungen spie¬ geln sich die Grundzüge des polnischen Nationalcharakters getreu ab: der heitere, ungezwungene Ton, der weniger bei der Verlorenheit, als bei der Erlösung des Menschengeschlechts verweilt, das stolze Hervorheben und die Ausmalung des Königthums Christi, das kriegerische Wohlgefallen an dem Kampfe desselben mit dem Teufel und an dessen Ueberwinden, und der freudige Stolz, mit welchem die Mitherrschaft und die Mitregentschaft der Erlösten neben Gott und Christo ni der ewigen Herrlichkeit, als ein Erbtheil des armen Bauern nicht minder, wie des Edelmanns gepriesen wird. Eine besondere Eigenthüm¬ lichkeit des polnischen Kirchenliedes aber ist das Borwiegen des musikalischen Charakters, dem mitunter der Gedankeninhalt sich beugen muß. Es waren no¬ torisch nicht sowohl die Kirchenlieder, als die wunderschönen Melodieen dersel¬ ben, welche dem Protestantismus in Polen eine so glückliche Ausnahme berei¬ teten. Noch heute sitzt >n manchen Gemeinden Sonntags der evangelische Pole vor der Dorfkirche und wartet stundenlang auf ihre Oeffnung, während er ein Lied seines Gesangbuches nach dem andern hinsingt, gleichviel, ob es Psingst-, Be¬ gräbnis; oder Weihnachtslieder sind. Das Kirchenlied führt uns auf den Kirchengesang. Ein großer Theil der polnischen Kirchenmelodieen ist aus der deutschen Sangesweise übernommen. Aber das evangelische Polen ist auch reich an eigenen Kirchenmelodieen. Jhre Heimath ist, wie bei den Kirchenliedern, vorzugsweise das preußische Polen, während Schlesien-seine polnischen Nationaimelvbieen von dort her empfangen hat. Die Hauptquellen dieser alten Melodieen sind das thorner Cantionai von 1601, ferner das von 1646, das dcmziger von 1642 und das rybinskische von 1646. Im vorigen Jahrhundert ist Masuren an Melodieen verarmt, für die Hälfte der Lieder ist die Sangesweise verloren gegangen, während Schlesien eine falsche Bereicherung durch willkürliche Veränderungen der alten Melodieen erfahren hat, dergestalt, daß auf die 372 Lieder des bricger Gesangbuchs nicht weniger als 1600 Melodieen existiren. Auße-r dem hier Genannten liegen noch manche Schätze der polnischen geist¬ lichen Literatur in Manuscripten und alten Drucken verborgen. Man rühmt von ihr. daß sie classisch, tief und vor Allem national sei. Für die Bildung polnischer Lehrer wird in Preußen durch das Seminar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/465>, abgerufen am 28.07.2024.