Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.Die Entdeckung Thüringens. Nicht nur in Centralafrika und Hochasien macht die geographische Wissen¬ Als wir vor kaum zwei Decennien in der nordischen Capitale der Intelli¬ Wenn ein eingeborner Berliner uns die Ehre erzeigte, nach der Stätte zu Grenzboten III. 1863. 5
Die Entdeckung Thüringens. Nicht nur in Centralafrika und Hochasien macht die geographische Wissen¬ Als wir vor kaum zwei Decennien in der nordischen Capitale der Intelli¬ Wenn ein eingeborner Berliner uns die Ehre erzeigte, nach der Stätte zu Grenzboten III. 1863. 5
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0041" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/115435"/> </div> <div n="1"> <head> Die Entdeckung Thüringens.</head><lb/> <p xml:id="ID_108"> Nicht nur in Centralafrika und Hochasien macht die geographische Wissen¬<lb/> schaft riesige Fortschritte, auch im Herzen von Deutschland sind in den letzten<lb/> Jahren nie geahnte Entdeckungen gemacht worden</p><lb/> <p xml:id="ID_109"> Als wir vor kaum zwei Decennien in der nordischen Capitale der Intelli¬<lb/> genz den Studien oblagen, da war der philosophische Horizont des echten Ber¬<lb/> liners infolge hegelscher Thesis. Antithesis und Synthesis (und in der Thal<lb/> lag die Philosophie damals in der Luft) ein unbegrenzter, aber sein geographi¬<lb/> scher Horizont war desto beschränkter. Jenseits Neustadt-Eberswcilde und, wenn<lb/> Einer eine außergewöhnliche Anlage zu einem Weltumsegler in sich fühlte, allenfalls<lb/> jenseits Rügen und des Harzes war die Welt mit Bretern zugeschlagen. Der<lb/> Harzreisende galt als eine Art Dr. Barth und hatte ob seiner Kühnheit nicht<lb/> weniger Tadel als Bewunderung zu erleiden. Aber Thüringen war ein unent-<lb/> decktes Land.</p><lb/> <p xml:id="ID_110" next="#ID_111"> Wenn ein eingeborner Berliner uns die Ehre erzeigte, nach der Stätte zu<lb/> fragen, wo unsere Wiege gestanden: dann pflegten wir, zeitig belehrt, daß<lb/> Rudolstadt, Eisenach, Meiningen in Berlin zu den mythischen Begriffen gehör¬<lb/> ten, mit einer Emphase, die eines bessern Erfolgs würdig gewesen wäre, Thü¬<lb/> ringen als die Heimath unserer Stammeseigenthümlichkeit, wie Herr von der<lb/> Pfordten sagt, zu proclcnniren. Aber der Effect war in der Regel nicht der<lb/> erwartete, Thüringen? Was ist Thüringen? Der damalige Berliner hatte<lb/> Von unserer schönen Heimath eine sehr unbestimmte, aber desto geringschätzigere<lb/> Vorstellung. Er kannte sie nicht, aber er mißbilligte sie. Weit hinten, wo die<lb/> Grenzpfähle der speculativen Philosophie standen, lag nach seiner Meinung ein<lb/> wildromantisches Land, ohne Cultur, mit Wald bedeckt, ohne Philosophie, ohne<lb/> Weißbier und Nippspeer, mit einem Wort uncivilisirt. In diesem Land der<lb/> Barbarei lebte der autochthone Thüringer von merkwürdigen runden Kugeln,<lb/> aus Erdäpfeln geknetet, welche Kugeln er mit dem hyperboräischen Namen Kar-<lb/> toffclklöse bezeichnete und sehr liebte, und von braunem Gerstensaft, der nicht<lb/> sauer schmeckte und nicht in der Nase prickelte und von dem unwissenden Ein-<lb/> gebornen doch auch Bier genannt wurde. Wir in Berlin studirenden Thürin¬<lb/> ger waren, das gab der Berliner in gewohnter Großmuth zu, von der Cultur<lb/> der Capitale schon etwas beleckt und unserer natürlichen Wildheit entrückt:<lb/> wir waren, wie er meinte, von unsern Stammeshäuptlingen entsendet, um an<lb/> dem Centralpunkt der europäischen Bildung und Gesittung einige Lichtstrahlen</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1863. 5</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0041]
Die Entdeckung Thüringens.
Nicht nur in Centralafrika und Hochasien macht die geographische Wissen¬
schaft riesige Fortschritte, auch im Herzen von Deutschland sind in den letzten
Jahren nie geahnte Entdeckungen gemacht worden
Als wir vor kaum zwei Decennien in der nordischen Capitale der Intelli¬
genz den Studien oblagen, da war der philosophische Horizont des echten Ber¬
liners infolge hegelscher Thesis. Antithesis und Synthesis (und in der Thal
lag die Philosophie damals in der Luft) ein unbegrenzter, aber sein geographi¬
scher Horizont war desto beschränkter. Jenseits Neustadt-Eberswcilde und, wenn
Einer eine außergewöhnliche Anlage zu einem Weltumsegler in sich fühlte, allenfalls
jenseits Rügen und des Harzes war die Welt mit Bretern zugeschlagen. Der
Harzreisende galt als eine Art Dr. Barth und hatte ob seiner Kühnheit nicht
weniger Tadel als Bewunderung zu erleiden. Aber Thüringen war ein unent-
decktes Land.
Wenn ein eingeborner Berliner uns die Ehre erzeigte, nach der Stätte zu
fragen, wo unsere Wiege gestanden: dann pflegten wir, zeitig belehrt, daß
Rudolstadt, Eisenach, Meiningen in Berlin zu den mythischen Begriffen gehör¬
ten, mit einer Emphase, die eines bessern Erfolgs würdig gewesen wäre, Thü¬
ringen als die Heimath unserer Stammeseigenthümlichkeit, wie Herr von der
Pfordten sagt, zu proclcnniren. Aber der Effect war in der Regel nicht der
erwartete, Thüringen? Was ist Thüringen? Der damalige Berliner hatte
Von unserer schönen Heimath eine sehr unbestimmte, aber desto geringschätzigere
Vorstellung. Er kannte sie nicht, aber er mißbilligte sie. Weit hinten, wo die
Grenzpfähle der speculativen Philosophie standen, lag nach seiner Meinung ein
wildromantisches Land, ohne Cultur, mit Wald bedeckt, ohne Philosophie, ohne
Weißbier und Nippspeer, mit einem Wort uncivilisirt. In diesem Land der
Barbarei lebte der autochthone Thüringer von merkwürdigen runden Kugeln,
aus Erdäpfeln geknetet, welche Kugeln er mit dem hyperboräischen Namen Kar-
toffclklöse bezeichnete und sehr liebte, und von braunem Gerstensaft, der nicht
sauer schmeckte und nicht in der Nase prickelte und von dem unwissenden Ein-
gebornen doch auch Bier genannt wurde. Wir in Berlin studirenden Thürin¬
ger waren, das gab der Berliner in gewohnter Großmuth zu, von der Cultur
der Capitale schon etwas beleckt und unserer natürlichen Wildheit entrückt:
wir waren, wie er meinte, von unsern Stammeshäuptlingen entsendet, um an
dem Centralpunkt der europäischen Bildung und Gesittung einige Lichtstrahlen
Grenzboten III. 1863. 5
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |