Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die Vorläufer der Renaissance, die nicht mit einem Mal den individuellen Men¬
schen fertig in die Welt gesetzt hat. Allein jenen starren, in objectiver Gil-
tigkeit noch ungebrochen dastehenden Formen der Gesellschaft und des Staats
gegenüber wird jeder solche Kampf selbst wieder einen allgemeinen Charakter
annehmen. Dem einzelnen Helden, der seiner Freiheit sich bewußt wird, fehlt
die freie Welt als Stoff für die Bethätigung seiner Freiheit. Uebermüthig.
mit erdrückender Wucht stehen ihm die objectiven Gewalten gegenüber, und um
nur die Mittel zum Kampfe aufzubringen, wird er sich selbst wieder an irgend
eine objective Macht anlehnen müssen. Entweder also, er ist völlig isolirt, steht
mit Bewußtsein über seiner Zeit, dann fehlt die dialektische Auseinander¬
setzung mit der objectiven Welt, sein Ringen wird einem fruchtlosen Monologe
gleichen; oder aber er entlehnt seine Waffen selbst wieder einer jener objectiven
Mächte und macht sich zum Vertreter eines Princips, um ein anderes zu be¬
kämpfen. In jenem Fall scheitert die dramatische Entwicklung an der Starr¬
heit der Verhältnisse, deren schließliche Uebermacht dein Zuschauer von Anfang
an klar ist, oder der Kampf des individuellen Menschen geht doch wieder aus
in einem Kampf principieller Mächte, der auf hundert Punkten genau wieder
derselbe ist und sich mit der einzigen Variation der Namen stets wiederholt.
Es sind nicht freie Potenzen, die durch die Bethätigung ihrer Willenskraft den
tragischen Conflict herbeiführen, sondern die Handlung nimmt ihren nothwen¬
digen Verlauf durch die innere Natur der aufeinanderstoßenden principiellen
Gegensätze. Nur eine ungemeine Kraft der Charakteristik wird im Stande sein,
diese Schwierigkeit zu überwinden, den Kaisern, Räthen, Bischöfen, Bürgern,
deren Gedankenkreis von vornherein feststeht, individuelle Farbe zu verleihen.
Im andern Fall wird jeder dieser Helden sein Pensum absagen, das ihm der
Dichter aufgibt, und das er ebensogut jedem ihrer Standesgenossen in den
Mund legen konnte.

Diese Schwierigkeit wird nur um so großer sein, wenn der eigentliche
Inhalt des Stücks nicht ein kleinerer geschichtlicher Ausschnitt ist, der immer¬
hin eine concentrirtere Handlung, eine schärfere psychologische Durchführung er¬
möglichen wird, sondern wenn der Dichter einen großen weltgeschichtlichen Stoff
behandelt, wenn eine große Katastrophe, ein Kampf zweier Weltalter oder das
Lebensresultat eines Geistes von erstem Rang in den Rahmen eines Dramas
gespannt ist. Solche Stoffe sind allerdings verführerisch, sie dürfen an und
für sich auf Theilnahme rechnen. Haben die Persönlichkeiten, deren Fall uns
vor Augen gestellt wird, geschichtliche Größe, so ist fast ^unvermeidlich, daß uns
ein großer Eindruck zurückbleibt; irgend ein Wiederstrahl derselben muß jawohl
in der Tragödie, deren Gegenstand sie ist, zu spüren sei". Allein dieses stoff¬
liche Interesse hält doch nicht vor, um die Mängel einer undramatischcn Action
'zu bedecken, und diese Gefahr liegt eben doppelt nahe bei großen geschichtlich


Grenzboten III. 1863. 47

die Vorläufer der Renaissance, die nicht mit einem Mal den individuellen Men¬
schen fertig in die Welt gesetzt hat. Allein jenen starren, in objectiver Gil-
tigkeit noch ungebrochen dastehenden Formen der Gesellschaft und des Staats
gegenüber wird jeder solche Kampf selbst wieder einen allgemeinen Charakter
annehmen. Dem einzelnen Helden, der seiner Freiheit sich bewußt wird, fehlt
die freie Welt als Stoff für die Bethätigung seiner Freiheit. Uebermüthig.
mit erdrückender Wucht stehen ihm die objectiven Gewalten gegenüber, und um
nur die Mittel zum Kampfe aufzubringen, wird er sich selbst wieder an irgend
eine objective Macht anlehnen müssen. Entweder also, er ist völlig isolirt, steht
mit Bewußtsein über seiner Zeit, dann fehlt die dialektische Auseinander¬
setzung mit der objectiven Welt, sein Ringen wird einem fruchtlosen Monologe
gleichen; oder aber er entlehnt seine Waffen selbst wieder einer jener objectiven
Mächte und macht sich zum Vertreter eines Princips, um ein anderes zu be¬
kämpfen. In jenem Fall scheitert die dramatische Entwicklung an der Starr¬
heit der Verhältnisse, deren schließliche Uebermacht dein Zuschauer von Anfang
an klar ist, oder der Kampf des individuellen Menschen geht doch wieder aus
in einem Kampf principieller Mächte, der auf hundert Punkten genau wieder
derselbe ist und sich mit der einzigen Variation der Namen stets wiederholt.
Es sind nicht freie Potenzen, die durch die Bethätigung ihrer Willenskraft den
tragischen Conflict herbeiführen, sondern die Handlung nimmt ihren nothwen¬
digen Verlauf durch die innere Natur der aufeinanderstoßenden principiellen
Gegensätze. Nur eine ungemeine Kraft der Charakteristik wird im Stande sein,
diese Schwierigkeit zu überwinden, den Kaisern, Räthen, Bischöfen, Bürgern,
deren Gedankenkreis von vornherein feststeht, individuelle Farbe zu verleihen.
Im andern Fall wird jeder dieser Helden sein Pensum absagen, das ihm der
Dichter aufgibt, und das er ebensogut jedem ihrer Standesgenossen in den
Mund legen konnte.

Diese Schwierigkeit wird nur um so großer sein, wenn der eigentliche
Inhalt des Stücks nicht ein kleinerer geschichtlicher Ausschnitt ist, der immer¬
hin eine concentrirtere Handlung, eine schärfere psychologische Durchführung er¬
möglichen wird, sondern wenn der Dichter einen großen weltgeschichtlichen Stoff
behandelt, wenn eine große Katastrophe, ein Kampf zweier Weltalter oder das
Lebensresultat eines Geistes von erstem Rang in den Rahmen eines Dramas
gespannt ist. Solche Stoffe sind allerdings verführerisch, sie dürfen an und
für sich auf Theilnahme rechnen. Haben die Persönlichkeiten, deren Fall uns
vor Augen gestellt wird, geschichtliche Größe, so ist fast ^unvermeidlich, daß uns
ein großer Eindruck zurückbleibt; irgend ein Wiederstrahl derselben muß jawohl
in der Tragödie, deren Gegenstand sie ist, zu spüren sei». Allein dieses stoff¬
liche Interesse hält doch nicht vor, um die Mängel einer undramatischcn Action
'zu bedecken, und diese Gefahr liegt eben doppelt nahe bei großen geschichtlich


Grenzboten III. 1863. 47
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0379" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/115771"/>
          <p xml:id="ID_1059" prev="#ID_1058"> die Vorläufer der Renaissance, die nicht mit einem Mal den individuellen Men¬<lb/>
schen fertig in die Welt gesetzt hat. Allein jenen starren, in objectiver Gil-<lb/>
tigkeit noch ungebrochen dastehenden Formen der Gesellschaft und des Staats<lb/>
gegenüber wird jeder solche Kampf selbst wieder einen allgemeinen Charakter<lb/>
annehmen. Dem einzelnen Helden, der seiner Freiheit sich bewußt wird, fehlt<lb/>
die freie Welt als Stoff für die Bethätigung seiner Freiheit. Uebermüthig.<lb/>
mit erdrückender Wucht stehen ihm die objectiven Gewalten gegenüber, und um<lb/>
nur die Mittel zum Kampfe aufzubringen, wird er sich selbst wieder an irgend<lb/>
eine objective Macht anlehnen müssen. Entweder also, er ist völlig isolirt, steht<lb/>
mit Bewußtsein über seiner Zeit, dann fehlt die dialektische Auseinander¬<lb/>
setzung mit der objectiven Welt, sein Ringen wird einem fruchtlosen Monologe<lb/>
gleichen; oder aber er entlehnt seine Waffen selbst wieder einer jener objectiven<lb/>
Mächte und macht sich zum Vertreter eines Princips, um ein anderes zu be¬<lb/>
kämpfen. In jenem Fall scheitert die dramatische Entwicklung an der Starr¬<lb/>
heit der Verhältnisse, deren schließliche Uebermacht dein Zuschauer von Anfang<lb/>
an klar ist, oder der Kampf des individuellen Menschen geht doch wieder aus<lb/>
in einem Kampf principieller Mächte, der auf hundert Punkten genau wieder<lb/>
derselbe ist und sich mit der einzigen Variation der Namen stets wiederholt.<lb/>
Es sind nicht freie Potenzen, die durch die Bethätigung ihrer Willenskraft den<lb/>
tragischen Conflict herbeiführen, sondern die Handlung nimmt ihren nothwen¬<lb/>
digen Verlauf durch die innere Natur der aufeinanderstoßenden principiellen<lb/>
Gegensätze. Nur eine ungemeine Kraft der Charakteristik wird im Stande sein,<lb/>
diese Schwierigkeit zu überwinden, den Kaisern, Räthen, Bischöfen, Bürgern,<lb/>
deren Gedankenkreis von vornherein feststeht, individuelle Farbe zu verleihen.<lb/>
Im andern Fall wird jeder dieser Helden sein Pensum absagen, das ihm der<lb/>
Dichter aufgibt, und das er ebensogut jedem ihrer Standesgenossen in den<lb/>
Mund legen konnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1060" next="#ID_1061"> Diese Schwierigkeit wird nur um so großer sein, wenn der eigentliche<lb/>
Inhalt des Stücks nicht ein kleinerer geschichtlicher Ausschnitt ist, der immer¬<lb/>
hin eine concentrirtere Handlung, eine schärfere psychologische Durchführung er¬<lb/>
möglichen wird, sondern wenn der Dichter einen großen weltgeschichtlichen Stoff<lb/>
behandelt, wenn eine große Katastrophe, ein Kampf zweier Weltalter oder das<lb/>
Lebensresultat eines Geistes von erstem Rang in den Rahmen eines Dramas<lb/>
gespannt ist. Solche Stoffe sind allerdings verführerisch, sie dürfen an und<lb/>
für sich auf Theilnahme rechnen. Haben die Persönlichkeiten, deren Fall uns<lb/>
vor Augen gestellt wird, geschichtliche Größe, so ist fast ^unvermeidlich, daß uns<lb/>
ein großer Eindruck zurückbleibt; irgend ein Wiederstrahl derselben muß jawohl<lb/>
in der Tragödie, deren Gegenstand sie ist, zu spüren sei». Allein dieses stoff¬<lb/>
liche Interesse hält doch nicht vor, um die Mängel einer undramatischcn Action<lb/>
'zu bedecken, und diese Gefahr liegt eben doppelt nahe bei großen geschichtlich</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1863. 47</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0379] die Vorläufer der Renaissance, die nicht mit einem Mal den individuellen Men¬ schen fertig in die Welt gesetzt hat. Allein jenen starren, in objectiver Gil- tigkeit noch ungebrochen dastehenden Formen der Gesellschaft und des Staats gegenüber wird jeder solche Kampf selbst wieder einen allgemeinen Charakter annehmen. Dem einzelnen Helden, der seiner Freiheit sich bewußt wird, fehlt die freie Welt als Stoff für die Bethätigung seiner Freiheit. Uebermüthig. mit erdrückender Wucht stehen ihm die objectiven Gewalten gegenüber, und um nur die Mittel zum Kampfe aufzubringen, wird er sich selbst wieder an irgend eine objective Macht anlehnen müssen. Entweder also, er ist völlig isolirt, steht mit Bewußtsein über seiner Zeit, dann fehlt die dialektische Auseinander¬ setzung mit der objectiven Welt, sein Ringen wird einem fruchtlosen Monologe gleichen; oder aber er entlehnt seine Waffen selbst wieder einer jener objectiven Mächte und macht sich zum Vertreter eines Princips, um ein anderes zu be¬ kämpfen. In jenem Fall scheitert die dramatische Entwicklung an der Starr¬ heit der Verhältnisse, deren schließliche Uebermacht dein Zuschauer von Anfang an klar ist, oder der Kampf des individuellen Menschen geht doch wieder aus in einem Kampf principieller Mächte, der auf hundert Punkten genau wieder derselbe ist und sich mit der einzigen Variation der Namen stets wiederholt. Es sind nicht freie Potenzen, die durch die Bethätigung ihrer Willenskraft den tragischen Conflict herbeiführen, sondern die Handlung nimmt ihren nothwen¬ digen Verlauf durch die innere Natur der aufeinanderstoßenden principiellen Gegensätze. Nur eine ungemeine Kraft der Charakteristik wird im Stande sein, diese Schwierigkeit zu überwinden, den Kaisern, Räthen, Bischöfen, Bürgern, deren Gedankenkreis von vornherein feststeht, individuelle Farbe zu verleihen. Im andern Fall wird jeder dieser Helden sein Pensum absagen, das ihm der Dichter aufgibt, und das er ebensogut jedem ihrer Standesgenossen in den Mund legen konnte. Diese Schwierigkeit wird nur um so großer sein, wenn der eigentliche Inhalt des Stücks nicht ein kleinerer geschichtlicher Ausschnitt ist, der immer¬ hin eine concentrirtere Handlung, eine schärfere psychologische Durchführung er¬ möglichen wird, sondern wenn der Dichter einen großen weltgeschichtlichen Stoff behandelt, wenn eine große Katastrophe, ein Kampf zweier Weltalter oder das Lebensresultat eines Geistes von erstem Rang in den Rahmen eines Dramas gespannt ist. Solche Stoffe sind allerdings verführerisch, sie dürfen an und für sich auf Theilnahme rechnen. Haben die Persönlichkeiten, deren Fall uns vor Augen gestellt wird, geschichtliche Größe, so ist fast ^unvermeidlich, daß uns ein großer Eindruck zurückbleibt; irgend ein Wiederstrahl derselben muß jawohl in der Tragödie, deren Gegenstand sie ist, zu spüren sei». Allein dieses stoff¬ liche Interesse hält doch nicht vor, um die Mängel einer undramatischcn Action 'zu bedecken, und diese Gefahr liegt eben doppelt nahe bei großen geschichtlich Grenzboten III. 1863. 47

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/379
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/379>, abgerufen am 28.07.2024.