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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Kampf der einheitlichen Staatsgewalt gegen die centrifugalen Tendenzen, gegen
den rebellischen Adel wie gegen das emporstrebende Bürgerthum, der Kampf
einer freieren Weltanschauung gegen hierarchischen Druck, wie er einerseits in
reformatorischen Versuchen, andrerseits in den Vorboten einer vernünftigen
Denkweise sich ankündigt, die Berührung abendländischer Cultur mit der mor¬
genländischen, die Conflicte zwischen nationalen und universalistischen Bestre¬
bungen, endlich die Beziehungen zwischen Deutschland und Italien, die durch
neuere geschichtliche Ereignisse, wie durch neuere geschichtliche Forschungen ein
specielles Zeitinteresse erhalten haben -- eine Fülle von Motiven, in die ein
dramatischer Dichter nur scheint hineingreifen zu dürfen, um ohne viel Be¬
sinnens sich das tauglichste Material herauszuholen.

Wir werden uns nicht wundern, wenn die Dichter, auch seitdem die Ro¬
mantik begraben ist, immer und immer wieder an diese Quelle zurückkehrten.
Wenn nun aber gleichwohl diese wiederholten Versuche die Verheißung Schle¬
gels nicht erfüllt haben, und die Hohenstaufenzeit un.s noch kein wahrhaft na¬
tionales, als ein gemeinsamer theurer Besitz anerkanntes Werk geliefert hat,
so dürfen wir auch hier nicht einfach das Nichtkönnen der Dichter anklagen.
Der Grund liegt tiefer, er liegt in dem innersten Wesen der mittelalterlichen
Geschichte überhaupt, welche das Individuum noch nicht kennt. Erst die Re¬
naissance hat den modernen, d. h. den individuellen Menschen geschaffen, und
nur der individuelle Mensch ist Gegenstand des Dramas.

Einem Shakespeare freilich war es erlaubt, seine Stoffe in mythischen
und antiken, in mittelalterlichen wie in modernen Zeiten zu suchen. Er durfte
sich getrauen, jedem Namen, wo er ihn fand, individuelles Leben und Ge¬
präge zu geben. Aber nicht Allen ist Alles erlaubt, und selbst eine shakespearesche
Kraft müßte heute mit dem entwickelteren geschichtlichen Bewußtsein rechnen.
Nicht zufällig haben Goethe und Schiller ihre Stoffe fast ausnahmslos inner¬
halb der bezeichneten Grenzlinie gesucht, und Niemand wird den Wilhelm Tell
verwerfen wollen, einen Stoff, der gerade recht eigentlich aus der mittelalter¬
lichen Sphäre heraus in eine bürgerliche, rein -menschliche Sphäre herausgehoben
ist, wie dies auf andere Weise Lessing mit seinem Nathan gethan hat. Der
Mensch des Mittelalters ist noch nicht auf sich selbst, auf seine Kraft gestellt.
Wie ihm die Welt des inneren Bewußtseins noch verschleiert ist, so ist er in
seinen äußeren Beziehungen gebunden durch allgemeine Mächte. Er ist sich
nicht selbst Gesetz; das, was er ist, ist er nur dadurch, daß er einem geschlosse¬
nen Ganzen angehört, sei es nun die Zunft oder das bürgerliche Gemeinwesen,
der Feudalstaat oder die Kirche. Bei kräftiger entwickelten Naturen ergeben
sich nun freilich eben aus diesem Gebundensein die mannigfachsten Conflicte.
Es fehlt nicht an eigengearteten Naturen, welche die gesetzten Schranken zu
durchbrechen suchen, und hier liegen unläugbar dramatische Momente; es sind


Kampf der einheitlichen Staatsgewalt gegen die centrifugalen Tendenzen, gegen
den rebellischen Adel wie gegen das emporstrebende Bürgerthum, der Kampf
einer freieren Weltanschauung gegen hierarchischen Druck, wie er einerseits in
reformatorischen Versuchen, andrerseits in den Vorboten einer vernünftigen
Denkweise sich ankündigt, die Berührung abendländischer Cultur mit der mor¬
genländischen, die Conflicte zwischen nationalen und universalistischen Bestre¬
bungen, endlich die Beziehungen zwischen Deutschland und Italien, die durch
neuere geschichtliche Ereignisse, wie durch neuere geschichtliche Forschungen ein
specielles Zeitinteresse erhalten haben — eine Fülle von Motiven, in die ein
dramatischer Dichter nur scheint hineingreifen zu dürfen, um ohne viel Be¬
sinnens sich das tauglichste Material herauszuholen.

Wir werden uns nicht wundern, wenn die Dichter, auch seitdem die Ro¬
mantik begraben ist, immer und immer wieder an diese Quelle zurückkehrten.
Wenn nun aber gleichwohl diese wiederholten Versuche die Verheißung Schle¬
gels nicht erfüllt haben, und die Hohenstaufenzeit un.s noch kein wahrhaft na¬
tionales, als ein gemeinsamer theurer Besitz anerkanntes Werk geliefert hat,
so dürfen wir auch hier nicht einfach das Nichtkönnen der Dichter anklagen.
Der Grund liegt tiefer, er liegt in dem innersten Wesen der mittelalterlichen
Geschichte überhaupt, welche das Individuum noch nicht kennt. Erst die Re¬
naissance hat den modernen, d. h. den individuellen Menschen geschaffen, und
nur der individuelle Mensch ist Gegenstand des Dramas.

Einem Shakespeare freilich war es erlaubt, seine Stoffe in mythischen
und antiken, in mittelalterlichen wie in modernen Zeiten zu suchen. Er durfte
sich getrauen, jedem Namen, wo er ihn fand, individuelles Leben und Ge¬
präge zu geben. Aber nicht Allen ist Alles erlaubt, und selbst eine shakespearesche
Kraft müßte heute mit dem entwickelteren geschichtlichen Bewußtsein rechnen.
Nicht zufällig haben Goethe und Schiller ihre Stoffe fast ausnahmslos inner¬
halb der bezeichneten Grenzlinie gesucht, und Niemand wird den Wilhelm Tell
verwerfen wollen, einen Stoff, der gerade recht eigentlich aus der mittelalter¬
lichen Sphäre heraus in eine bürgerliche, rein -menschliche Sphäre herausgehoben
ist, wie dies auf andere Weise Lessing mit seinem Nathan gethan hat. Der
Mensch des Mittelalters ist noch nicht auf sich selbst, auf seine Kraft gestellt.
Wie ihm die Welt des inneren Bewußtseins noch verschleiert ist, so ist er in
seinen äußeren Beziehungen gebunden durch allgemeine Mächte. Er ist sich
nicht selbst Gesetz; das, was er ist, ist er nur dadurch, daß er einem geschlosse¬
nen Ganzen angehört, sei es nun die Zunft oder das bürgerliche Gemeinwesen,
der Feudalstaat oder die Kirche. Bei kräftiger entwickelten Naturen ergeben
sich nun freilich eben aus diesem Gebundensein die mannigfachsten Conflicte.
Es fehlt nicht an eigengearteten Naturen, welche die gesetzten Schranken zu
durchbrechen suchen, und hier liegen unläugbar dramatische Momente; es sind


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[0378] Kampf der einheitlichen Staatsgewalt gegen die centrifugalen Tendenzen, gegen den rebellischen Adel wie gegen das emporstrebende Bürgerthum, der Kampf einer freieren Weltanschauung gegen hierarchischen Druck, wie er einerseits in reformatorischen Versuchen, andrerseits in den Vorboten einer vernünftigen Denkweise sich ankündigt, die Berührung abendländischer Cultur mit der mor¬ genländischen, die Conflicte zwischen nationalen und universalistischen Bestre¬ bungen, endlich die Beziehungen zwischen Deutschland und Italien, die durch neuere geschichtliche Ereignisse, wie durch neuere geschichtliche Forschungen ein specielles Zeitinteresse erhalten haben — eine Fülle von Motiven, in die ein dramatischer Dichter nur scheint hineingreifen zu dürfen, um ohne viel Be¬ sinnens sich das tauglichste Material herauszuholen. Wir werden uns nicht wundern, wenn die Dichter, auch seitdem die Ro¬ mantik begraben ist, immer und immer wieder an diese Quelle zurückkehrten. Wenn nun aber gleichwohl diese wiederholten Versuche die Verheißung Schle¬ gels nicht erfüllt haben, und die Hohenstaufenzeit un.s noch kein wahrhaft na¬ tionales, als ein gemeinsamer theurer Besitz anerkanntes Werk geliefert hat, so dürfen wir auch hier nicht einfach das Nichtkönnen der Dichter anklagen. Der Grund liegt tiefer, er liegt in dem innersten Wesen der mittelalterlichen Geschichte überhaupt, welche das Individuum noch nicht kennt. Erst die Re¬ naissance hat den modernen, d. h. den individuellen Menschen geschaffen, und nur der individuelle Mensch ist Gegenstand des Dramas. Einem Shakespeare freilich war es erlaubt, seine Stoffe in mythischen und antiken, in mittelalterlichen wie in modernen Zeiten zu suchen. Er durfte sich getrauen, jedem Namen, wo er ihn fand, individuelles Leben und Ge¬ präge zu geben. Aber nicht Allen ist Alles erlaubt, und selbst eine shakespearesche Kraft müßte heute mit dem entwickelteren geschichtlichen Bewußtsein rechnen. Nicht zufällig haben Goethe und Schiller ihre Stoffe fast ausnahmslos inner¬ halb der bezeichneten Grenzlinie gesucht, und Niemand wird den Wilhelm Tell verwerfen wollen, einen Stoff, der gerade recht eigentlich aus der mittelalter¬ lichen Sphäre heraus in eine bürgerliche, rein -menschliche Sphäre herausgehoben ist, wie dies auf andere Weise Lessing mit seinem Nathan gethan hat. Der Mensch des Mittelalters ist noch nicht auf sich selbst, auf seine Kraft gestellt. Wie ihm die Welt des inneren Bewußtseins noch verschleiert ist, so ist er in seinen äußeren Beziehungen gebunden durch allgemeine Mächte. Er ist sich nicht selbst Gesetz; das, was er ist, ist er nur dadurch, daß er einem geschlosse¬ nen Ganzen angehört, sei es nun die Zunft oder das bürgerliche Gemeinwesen, der Feudalstaat oder die Kirche. Bei kräftiger entwickelten Naturen ergeben sich nun freilich eben aus diesem Gebundensein die mannigfachsten Conflicte. Es fehlt nicht an eigengearteten Naturen, welche die gesetzten Schranken zu durchbrechen suchen, und hier liegen unläugbar dramatische Momente; es sind

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/378>, abgerufen am 28.07.2024.