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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Fassen wir den Gedanken, um den es sich hier handelt, noch von einer
anderen Seite: alle Wasserthiere müssen nothwendig dem Aufenthalt in diesem
Element angepaßt sein, und insofern haben sie sämmtlich etwas Gemeinsames
in ihrer Organisation, was sie von den Landthieren unterscheidet; in demselben
Sinne ist die Thatsache zu deuten, daß wir im Stande sind, sehr auffallende
Unterschiede der Hochgebirgsflora von der der Ebenen wahrzunehmen, daß die
zwischen dem Getreide als Unkraut wachsenden Pflanzen sämmtlich etwas Ge¬
meinsames im Habitus besitzen, wodurch sie sich von den an Wegen und in
Wäldern wachsenden unterscheiden. Man würde in dieser Richtung eingehender
forschend, als bisher, ein natürliches physiologisches System der Thiere und
Pflanzen aufstellen können. Allein hier würden die einzelnen Arten in ganz
anderer Ordnung zu stehen kommen, als im natürlichen (morphologischen) System.
Während der nach der Adaptation ordnende Physiolog den Krebs und die
Muschel in eine Classe bringen müßte, ebenso auch die Wasserlilie neben die
verschiedcnblättrigc Ranunkel stellen würde, hätte dagegen der Systematiker eine
ganz andere Eintheilung vorzunehmen, so daß die dicht neben einander schwim¬
menden Thiere oder Pflanzen im Buche und Kopfe in ganz verschiedene Ge¬
genden zu stehen kommen. Und beide haben Recht; denn jeder faßt eines der
beiden Bildungsprincipien allein ins Auge; der Physiolog die Adaptationen,
der Systematiker die morphologischen Uebereinstimmungen und Differenzen; ihm
sind gerade diejenigen Merkmale die wichtigsten, welche von der Adaptation am
wenigsten afficirt werden.

Dieser Dualismus, dieses Nebeneinanderbestehen und Ineinandergreifen
zweier wesentlich verschiedenen Principien, welche die Formen der Organismen
bestimmen, läßt sich nicht beseitigen. Es wäre, um mit Darwin zu reden, ein
hoffnungsloses Unternehmen, sämmtliche Eigenthümlichkeiten im Bau der Pflan¬
zen und Thiere ganz allein durch ein Princip, das der Wichtigkeit, oder Zweck¬
mäßigkeit, wie man es lieber nannte, erklären zu wollen. Es mag sein, daß,
wie Owen hervorhob, die Zusammensetzung des Säugcthierschädels aus einer
bestimmten Zahl bestimmt gelagerter Knochenstücke für den Act der Geburt von
großem Nutzen ist, allein der Vogelschädel besteht aus denselben Stücken und
hier fällt diese Deutung von selbst weg. Ebensowenig kann man behaupten
wollen, daß es für den Zweck eines Adlcrflügels nothwendig sei, daß er ein
Knochengerüst besitze. ' welches im Wesentlichsten mit dem eines Pferdefußes
übereinstimmt; sind doch die Flügel der Insekten kaum minder geschickte Flug-
vrganc als die der Vögel, ohne daß sie die geringste Ähnlichkeit weder mit
einem Vogelflügel noch mit einem Säugcthierfuße in morphologischer Hinsicht
darböten. Solange man sich .dem Gedanken hingibt, daß jede Thier- und
Pflanzenform einem bestimmten Schöpfungsacte ihr Dasein verdankt, daß jede
Species mit einem Schlage zur Existenz gerufen und zu unabänderlichem Be-


Fassen wir den Gedanken, um den es sich hier handelt, noch von einer
anderen Seite: alle Wasserthiere müssen nothwendig dem Aufenthalt in diesem
Element angepaßt sein, und insofern haben sie sämmtlich etwas Gemeinsames
in ihrer Organisation, was sie von den Landthieren unterscheidet; in demselben
Sinne ist die Thatsache zu deuten, daß wir im Stande sind, sehr auffallende
Unterschiede der Hochgebirgsflora von der der Ebenen wahrzunehmen, daß die
zwischen dem Getreide als Unkraut wachsenden Pflanzen sämmtlich etwas Ge¬
meinsames im Habitus besitzen, wodurch sie sich von den an Wegen und in
Wäldern wachsenden unterscheiden. Man würde in dieser Richtung eingehender
forschend, als bisher, ein natürliches physiologisches System der Thiere und
Pflanzen aufstellen können. Allein hier würden die einzelnen Arten in ganz
anderer Ordnung zu stehen kommen, als im natürlichen (morphologischen) System.
Während der nach der Adaptation ordnende Physiolog den Krebs und die
Muschel in eine Classe bringen müßte, ebenso auch die Wasserlilie neben die
verschiedcnblättrigc Ranunkel stellen würde, hätte dagegen der Systematiker eine
ganz andere Eintheilung vorzunehmen, so daß die dicht neben einander schwim¬
menden Thiere oder Pflanzen im Buche und Kopfe in ganz verschiedene Ge¬
genden zu stehen kommen. Und beide haben Recht; denn jeder faßt eines der
beiden Bildungsprincipien allein ins Auge; der Physiolog die Adaptationen,
der Systematiker die morphologischen Uebereinstimmungen und Differenzen; ihm
sind gerade diejenigen Merkmale die wichtigsten, welche von der Adaptation am
wenigsten afficirt werden.

Dieser Dualismus, dieses Nebeneinanderbestehen und Ineinandergreifen
zweier wesentlich verschiedenen Principien, welche die Formen der Organismen
bestimmen, läßt sich nicht beseitigen. Es wäre, um mit Darwin zu reden, ein
hoffnungsloses Unternehmen, sämmtliche Eigenthümlichkeiten im Bau der Pflan¬
zen und Thiere ganz allein durch ein Princip, das der Wichtigkeit, oder Zweck¬
mäßigkeit, wie man es lieber nannte, erklären zu wollen. Es mag sein, daß,
wie Owen hervorhob, die Zusammensetzung des Säugcthierschädels aus einer
bestimmten Zahl bestimmt gelagerter Knochenstücke für den Act der Geburt von
großem Nutzen ist, allein der Vogelschädel besteht aus denselben Stücken und
hier fällt diese Deutung von selbst weg. Ebensowenig kann man behaupten
wollen, daß es für den Zweck eines Adlcrflügels nothwendig sei, daß er ein
Knochengerüst besitze. ' welches im Wesentlichsten mit dem eines Pferdefußes
übereinstimmt; sind doch die Flügel der Insekten kaum minder geschickte Flug-
vrganc als die der Vögel, ohne daß sie die geringste Ähnlichkeit weder mit
einem Vogelflügel noch mit einem Säugcthierfuße in morphologischer Hinsicht
darböten. Solange man sich .dem Gedanken hingibt, daß jede Thier- und
Pflanzenform einem bestimmten Schöpfungsacte ihr Dasein verdankt, daß jede
Species mit einem Schlage zur Existenz gerufen und zu unabänderlichem Be-


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[0304] Fassen wir den Gedanken, um den es sich hier handelt, noch von einer anderen Seite: alle Wasserthiere müssen nothwendig dem Aufenthalt in diesem Element angepaßt sein, und insofern haben sie sämmtlich etwas Gemeinsames in ihrer Organisation, was sie von den Landthieren unterscheidet; in demselben Sinne ist die Thatsache zu deuten, daß wir im Stande sind, sehr auffallende Unterschiede der Hochgebirgsflora von der der Ebenen wahrzunehmen, daß die zwischen dem Getreide als Unkraut wachsenden Pflanzen sämmtlich etwas Ge¬ meinsames im Habitus besitzen, wodurch sie sich von den an Wegen und in Wäldern wachsenden unterscheiden. Man würde in dieser Richtung eingehender forschend, als bisher, ein natürliches physiologisches System der Thiere und Pflanzen aufstellen können. Allein hier würden die einzelnen Arten in ganz anderer Ordnung zu stehen kommen, als im natürlichen (morphologischen) System. Während der nach der Adaptation ordnende Physiolog den Krebs und die Muschel in eine Classe bringen müßte, ebenso auch die Wasserlilie neben die verschiedcnblättrigc Ranunkel stellen würde, hätte dagegen der Systematiker eine ganz andere Eintheilung vorzunehmen, so daß die dicht neben einander schwim¬ menden Thiere oder Pflanzen im Buche und Kopfe in ganz verschiedene Ge¬ genden zu stehen kommen. Und beide haben Recht; denn jeder faßt eines der beiden Bildungsprincipien allein ins Auge; der Physiolog die Adaptationen, der Systematiker die morphologischen Uebereinstimmungen und Differenzen; ihm sind gerade diejenigen Merkmale die wichtigsten, welche von der Adaptation am wenigsten afficirt werden. Dieser Dualismus, dieses Nebeneinanderbestehen und Ineinandergreifen zweier wesentlich verschiedenen Principien, welche die Formen der Organismen bestimmen, läßt sich nicht beseitigen. Es wäre, um mit Darwin zu reden, ein hoffnungsloses Unternehmen, sämmtliche Eigenthümlichkeiten im Bau der Pflan¬ zen und Thiere ganz allein durch ein Princip, das der Wichtigkeit, oder Zweck¬ mäßigkeit, wie man es lieber nannte, erklären zu wollen. Es mag sein, daß, wie Owen hervorhob, die Zusammensetzung des Säugcthierschädels aus einer bestimmten Zahl bestimmt gelagerter Knochenstücke für den Act der Geburt von großem Nutzen ist, allein der Vogelschädel besteht aus denselben Stücken und hier fällt diese Deutung von selbst weg. Ebensowenig kann man behaupten wollen, daß es für den Zweck eines Adlcrflügels nothwendig sei, daß er ein Knochengerüst besitze. ' welches im Wesentlichsten mit dem eines Pferdefußes übereinstimmt; sind doch die Flügel der Insekten kaum minder geschickte Flug- vrganc als die der Vögel, ohne daß sie die geringste Ähnlichkeit weder mit einem Vogelflügel noch mit einem Säugcthierfuße in morphologischer Hinsicht darböten. Solange man sich .dem Gedanken hingibt, daß jede Thier- und Pflanzenform einem bestimmten Schöpfungsacte ihr Dasein verdankt, daß jede Species mit einem Schlage zur Existenz gerufen und zu unabänderlichem Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/304>, abgerufen am 28.07.2024.