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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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dem letzten Winter wurde seine Schwäche auch für seine Freunde beunruhigend,
einem Gehirnschlag folgte schnell das allmcilige Erlöschen des Lebens.

Der Mann, der unter diesen Verhältnissen lebte, hat als Politiker für uns
Deutsche eine hohe Bedeutung; denn er war nach seiner ganzen Auffassung
von Staat und Volk der erste und älteste Staatsmann desjenigen Liberalismus,
welchen jetzt die nationale Partei vertritt. Es war sein und unser Schicksal,
daß er den besten Theil seines Lebens im Dienste nachbarlicher Königshäuser
zu wirken hatte. Aber er, der Beamte und Rathgeber der Souveräne, empfand,
handelte und lehrte sein Leben lang nach dem Grundsatz, wie die höchste und
einzige Berechtigung der Herrscher und Dynastien darin zu finden sei, daß sie
achtungsvoll und bescheiden den besten Interessen ihrer Völker zu dienen wüßten.
Diese edle Lehre prägte er tief in das Leben zweier großen Fürstensamilien,
deren Politik mit denen seines Vaterlandes so eng verbunden ist. Dieselbe
tiefsinnige und spähende Betrachtung alles menschlichen Werdens, welche un¬
serer deutschen Wissenschaft das freie Selbstgefühl gegeben hat, welche jetzt unser
ganzes Leben erhebt und adelt, sie wurde zuerst von ihm mit Bewußtsein
auf die praktische Politik und die Geschäfte angewandt. Er war in diesem
Sinne ein deutscher Idealist, und er war stolz darauf. Aber er war nichts
weniger als ein Doctrinär. Vielleicht Niemand der Lebenden hat eine so aus¬
gezeichnete Kenntniß der Personen und der geheimen Geschichte unserer letzten
fünfzig Jahre besessen, Wenige haben so unbefangen und scharf die Beschränkt¬
heit der Individuen, die UnVollkommenheit alles Gewordenen zu verstehen ge¬
wußt. Es war nie seine Art, von Menschen und Zuständen das Unmögliche
zu verlangen; auch für das Mögliche brachte er die menschliche UnVollkommen¬
heit sehr reichlich in Rechnung. Unläugbar war in seinem Wesen etwas, was
ihn zum Politiker einer geschlossenen Partei nicht vorzugsweise geeignet machte.
Ihm war Bedürfniß, sich vor allem Werdenden auf den höchsten und freisten
Standpunkt zu setzen, für die schwankenden Zielpunkte der Parteien hatte er we¬
nigstens in der Stille seines Greisenalters nicht mehr die Resignation und Be¬
stimmbarkeit, die einem thätigen Führer nothwendig sind. Er hatte oft die
Beschränkung und den Wechsel der Tagcsstimmungcn kennen gelernt, und er
war vorzugsweise in der Lage gewesen, über die einzelnen Kämpfe hinüber auf
die Wirkungen derselben für das Ganze zu blicken. Er hatte endlich sein ganzes
Leben hindurch nur selten, weder in Belgien noch in England, mitten in dem
Kampfe der Parteien gestanden, sondern er war an die freie Stellung gewöhnt,
die dem Fürsten selbst ziemt, mit klarem Urtheil die Zielpunkte und Kräfte
jeder einzelnen Richtung zu verstehen, vielleicht zu übersehen. Aber er war
durchaus nicht so geartet, daß er die Parteien mit der Unbefangenheit eines
Anatomen betrachtet hätte, sein ganzes warmes Herz, alle Ueberzeugungen eines
reichen Lebens stellten ihn auf die Seite der Liberalen, und in seinen For-


dem letzten Winter wurde seine Schwäche auch für seine Freunde beunruhigend,
einem Gehirnschlag folgte schnell das allmcilige Erlöschen des Lebens.

Der Mann, der unter diesen Verhältnissen lebte, hat als Politiker für uns
Deutsche eine hohe Bedeutung; denn er war nach seiner ganzen Auffassung
von Staat und Volk der erste und älteste Staatsmann desjenigen Liberalismus,
welchen jetzt die nationale Partei vertritt. Es war sein und unser Schicksal,
daß er den besten Theil seines Lebens im Dienste nachbarlicher Königshäuser
zu wirken hatte. Aber er, der Beamte und Rathgeber der Souveräne, empfand,
handelte und lehrte sein Leben lang nach dem Grundsatz, wie die höchste und
einzige Berechtigung der Herrscher und Dynastien darin zu finden sei, daß sie
achtungsvoll und bescheiden den besten Interessen ihrer Völker zu dienen wüßten.
Diese edle Lehre prägte er tief in das Leben zweier großen Fürstensamilien,
deren Politik mit denen seines Vaterlandes so eng verbunden ist. Dieselbe
tiefsinnige und spähende Betrachtung alles menschlichen Werdens, welche un¬
serer deutschen Wissenschaft das freie Selbstgefühl gegeben hat, welche jetzt unser
ganzes Leben erhebt und adelt, sie wurde zuerst von ihm mit Bewußtsein
auf die praktische Politik und die Geschäfte angewandt. Er war in diesem
Sinne ein deutscher Idealist, und er war stolz darauf. Aber er war nichts
weniger als ein Doctrinär. Vielleicht Niemand der Lebenden hat eine so aus¬
gezeichnete Kenntniß der Personen und der geheimen Geschichte unserer letzten
fünfzig Jahre besessen, Wenige haben so unbefangen und scharf die Beschränkt¬
heit der Individuen, die UnVollkommenheit alles Gewordenen zu verstehen ge¬
wußt. Es war nie seine Art, von Menschen und Zuständen das Unmögliche
zu verlangen; auch für das Mögliche brachte er die menschliche UnVollkommen¬
heit sehr reichlich in Rechnung. Unläugbar war in seinem Wesen etwas, was
ihn zum Politiker einer geschlossenen Partei nicht vorzugsweise geeignet machte.
Ihm war Bedürfniß, sich vor allem Werdenden auf den höchsten und freisten
Standpunkt zu setzen, für die schwankenden Zielpunkte der Parteien hatte er we¬
nigstens in der Stille seines Greisenalters nicht mehr die Resignation und Be¬
stimmbarkeit, die einem thätigen Führer nothwendig sind. Er hatte oft die
Beschränkung und den Wechsel der Tagcsstimmungcn kennen gelernt, und er
war vorzugsweise in der Lage gewesen, über die einzelnen Kämpfe hinüber auf
die Wirkungen derselben für das Ganze zu blicken. Er hatte endlich sein ganzes
Leben hindurch nur selten, weder in Belgien noch in England, mitten in dem
Kampfe der Parteien gestanden, sondern er war an die freie Stellung gewöhnt,
die dem Fürsten selbst ziemt, mit klarem Urtheil die Zielpunkte und Kräfte
jeder einzelnen Richtung zu verstehen, vielleicht zu übersehen. Aber er war
durchaus nicht so geartet, daß er die Parteien mit der Unbefangenheit eines
Anatomen betrachtet hätte, sein ganzes warmes Herz, alle Ueberzeugungen eines
reichen Lebens stellten ihn auf die Seite der Liberalen, und in seinen For-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/180>, abgerufen am 01.09.2024.