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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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kannte, sondern der moderne rüstige Wandersmann, der sich tummelte in der
freien Luft. Und nicht mehr in wohlgeordneter Aufzählung ward die Herrlich¬
keit der Erde geschildert, sondern hinter den poetischen Bildern stand das tief¬
bewegte Gemüth des Dichters, ein warmer, nahezu pantheistischer Naturcultus.
Mit diesem neu erwachten Verständniß der Natur war aufs Engste verkettet
der romantische Sinn der Zeit, der aus den Trümmern der alten Burgen die
Herrlichkeit des Mittelalters zu neuem Leben emporrief. Walter Scott dichtete
das erste moderne romantische Epos, das, arm an psychologischem Interesse,
dennoch eine berechtigte Form der Dichtung war; denn die bewegte Schilderung
der romantischen Pracht der Hochlande und ihres wilden ursprünglichen Volks¬
lebens entsprach den innigsten Gefühlen der Zeit. Und nun begann das Wall¬
fahrten nach den romantischen Stätten des Landes, und der englische Tourist
betrachtete mit phantastischer Theilnahme das Feld von Killiecranckic, wo einst
seine eigenen Landsleute von den Unholden mit dem Tartar und den nackten
Waden geschlagen wurden. Von allen diesen Empfindungen der Epoche trägt
der Childe Harold die Spuren. In der losen Form des romantischen Epos
erschien hier wieder, nur feuriger und verständlicher, die Naturschwärmerei der
Seeschule und jene Lust an prächtiger Beschreibung, die seitdem eine vorherr¬
schende Neigung des Dichters blieb; "äeseription is doree" Pflegte er
zu sagen. Und jene wildschönen Schilderungen des Treibens der griechischen
Bergvölker, waren sie nicht durchweht von derselben romantischen Empfindung,
die in Walter Scotts "Jungfrau vom See" athmete?

Und doch war es wirklich nur die'Furcht vor dem überlegenen Beschreibungs¬
talente des jungen Dichters, die Walter Scott bewog, nach dem Erscheinen des
Childe Harold nicht mehr in gebundener Rede zu schreiben? War wirklich nur
die üble Laune, und nicht vielmehr das geheime Bewußtsein einer tiefen grund¬
sätzlichen Feindschaft, die Mutter jener erbarmungslosen Satire "Englische Bar¬
den und schottische Kritiker", die Byron gleich am Beginn seiner Laufbahn
den englischen Romantikern entgegenwarf? Gleich den deutschen suchten auch die
englischen Romantiker ihre Ideale in der Vergangenheit, und es ist kein Zufall,
daß Walter Scott im Leben ein unverbesserlicher Tory blieb. Dieser Flucht
aus der Gegenwart, diesen "stubenhockenden Minstrels" trat Byron als ein
Revolutionär entgegen, mit dem kecken Uebermuthe eines modernen Menschen.
Indem er seine Person mit unerhörter Anmaßung in seinen Gedichten vor¬
drängte, gab er zuerst einer echt modernen Stimmung poetischen Ausdruck, die
längst schon in dem jüngeren Geschlechte verbreitet war. Wohl hatte bereits
einmal ein moderner Dichter in all seinen Werken sein eignes Ich enthüllt und
die Welt durch eine Reihe von Werken entzückt, die er selber Bekenntnisse
nannte. Doch Goethes Genius war so unermeßlich reich, so harmonisch, so
sehr ein Bild der Welt, daß die meisten seiner Leser den verwegen subjectiven


kannte, sondern der moderne rüstige Wandersmann, der sich tummelte in der
freien Luft. Und nicht mehr in wohlgeordneter Aufzählung ward die Herrlich¬
keit der Erde geschildert, sondern hinter den poetischen Bildern stand das tief¬
bewegte Gemüth des Dichters, ein warmer, nahezu pantheistischer Naturcultus.
Mit diesem neu erwachten Verständniß der Natur war aufs Engste verkettet
der romantische Sinn der Zeit, der aus den Trümmern der alten Burgen die
Herrlichkeit des Mittelalters zu neuem Leben emporrief. Walter Scott dichtete
das erste moderne romantische Epos, das, arm an psychologischem Interesse,
dennoch eine berechtigte Form der Dichtung war; denn die bewegte Schilderung
der romantischen Pracht der Hochlande und ihres wilden ursprünglichen Volks¬
lebens entsprach den innigsten Gefühlen der Zeit. Und nun begann das Wall¬
fahrten nach den romantischen Stätten des Landes, und der englische Tourist
betrachtete mit phantastischer Theilnahme das Feld von Killiecranckic, wo einst
seine eigenen Landsleute von den Unholden mit dem Tartar und den nackten
Waden geschlagen wurden. Von allen diesen Empfindungen der Epoche trägt
der Childe Harold die Spuren. In der losen Form des romantischen Epos
erschien hier wieder, nur feuriger und verständlicher, die Naturschwärmerei der
Seeschule und jene Lust an prächtiger Beschreibung, die seitdem eine vorherr¬
schende Neigung des Dichters blieb; „äeseription is doree" Pflegte er
zu sagen. Und jene wildschönen Schilderungen des Treibens der griechischen
Bergvölker, waren sie nicht durchweht von derselben romantischen Empfindung,
die in Walter Scotts „Jungfrau vom See" athmete?

Und doch war es wirklich nur die'Furcht vor dem überlegenen Beschreibungs¬
talente des jungen Dichters, die Walter Scott bewog, nach dem Erscheinen des
Childe Harold nicht mehr in gebundener Rede zu schreiben? War wirklich nur
die üble Laune, und nicht vielmehr das geheime Bewußtsein einer tiefen grund¬
sätzlichen Feindschaft, die Mutter jener erbarmungslosen Satire „Englische Bar¬
den und schottische Kritiker", die Byron gleich am Beginn seiner Laufbahn
den englischen Romantikern entgegenwarf? Gleich den deutschen suchten auch die
englischen Romantiker ihre Ideale in der Vergangenheit, und es ist kein Zufall,
daß Walter Scott im Leben ein unverbesserlicher Tory blieb. Dieser Flucht
aus der Gegenwart, diesen „stubenhockenden Minstrels" trat Byron als ein
Revolutionär entgegen, mit dem kecken Uebermuthe eines modernen Menschen.
Indem er seine Person mit unerhörter Anmaßung in seinen Gedichten vor¬
drängte, gab er zuerst einer echt modernen Stimmung poetischen Ausdruck, die
längst schon in dem jüngeren Geschlechte verbreitet war. Wohl hatte bereits
einmal ein moderner Dichter in all seinen Werken sein eignes Ich enthüllt und
die Welt durch eine Reihe von Werken entzückt, die er selber Bekenntnisse
nannte. Doch Goethes Genius war so unermeßlich reich, so harmonisch, so
sehr ein Bild der Welt, daß die meisten seiner Leser den verwegen subjectiven


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/15>, abgerufen am 22.12.2024.