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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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tur besaß Byron nur oberflächliche Kenntniß. Miltons puritanische Strenge
stieß ihn ab, und sein ungeheurer Ehrgeiz bäumte sich auch wider Shakespeares
erdrückende Größe. Da nun vollends alle seine Feinde unter den romantischen
Zeitgenossen die kaum erst von Neuem verstandene Herrlichkeit der shakespeare-
schen Dichtung priesen, so trieb ihn auch der Widerspruchsgeist, die Uever-
legenheit Shakespeares, vor der Welt zum mindesten, zu läugnen und an sei¬
nem Pope festzuhalten.

Doch zu seinem Heile war Byron am wenigsten der Mann, sein dich¬
terisches Schaffen unter die Leitung einer ästhetischen Theorie zu stellen. Er
war nicht jener denkenden Künstler Einer, an denen wir, wie an Milton und
den großen deutschen Dichtern, die wunderbare Verbindung von ursprünglicher,
ewig junger Begeisterung und klarer Einsicht in die Kunstgesetze bestaunen.
Kaum je hat ein Dichter so leicht, so unbewußt geschaffen; ein Kind der Stunde
warf er seine feurigen Verse hin und stand dann, in seiner Jugend mindestens,
urtheilslos vor dem Geschaffenen. Von seiner ersten großen Reise brachte er
heim eine Umschreibung der s.i-8 poetica, des Horaz, worauf er all seine pvpesche
Gelehrsamkeit verschwendet, und -- "eine große Menge Stanzen in Spensers
Versmaß, die sich auf die durchpilgerten Länder beziehen." Von den Links
t>om IIoiÄcie weiß heute; Niemand mehr zu reden. Jene große Menge Stan¬
zen aber, geschrieben an Bord, zu Pferd, mitten in Berg und Wald, wie die
Gunst des Augenblicks sie schenkte, waren -- die ersten Gesänge des Childe
Harold. Als er dies Werk widerstrebend in den Druck gegeben hatte und die
entzückten Leser ihn alsbald zu den ersten Dichtern der Nation zählten, da
zeigte sichs, daß ein echter Dichter wohl mit seinen Theorien, aber nie mit
seiner Phantasie in Anachronismen leben, daß ein wahres DichtergemütK nie
eiwas Anderes widerspiegeln kann als die Ideen seiner Zeit. , Die Zeit aber,
deren Ideale Byron unbewußt dargestellt, war durchaus erfüllt von den Ge¬
danken der Romantik. Die deutsche Dichtung, die selber der Größe Shake¬
speares und der Laune Sternes so Vieles dankte, hatte den Lehrern die alte
Schuld reichlich heimgezahlt; die Ideen unserer Klassiker und unserer Roman¬
tiker wirkten zu gleicher Zeit auf die englische Literatur.

Durch Goethe vornehmlich lernten die englischen Lyriker wieder, die Na¬
tur treu und herzlich zu verstehen, und wie Goethe selbst dem deutschen Volks¬
lieds einige seiner schönsten Lieder nachgebildet hatte, so erschlossen jetzt Mac-
phersons Ossian und zahlreiche Sammlungen der irischen Sagen und der un¬
vergleichlichen altenglischen Balladen den Briten die poetischen Schätze ihrer
heimischen Vorzeit. Die Dichter der "Seeschule" gefielen sich noch in Schil¬
derungen, fast so breit und ausführlich, wie Pope sie geliebt hatte. Aber aus
diesen neuen Gedichten sprach nicht mehr der stubengelehrte Dichter des 18. Jahr-
Hunderts, der die Natur nur aus den saubern Taxushecken seines Gartens


tur besaß Byron nur oberflächliche Kenntniß. Miltons puritanische Strenge
stieß ihn ab, und sein ungeheurer Ehrgeiz bäumte sich auch wider Shakespeares
erdrückende Größe. Da nun vollends alle seine Feinde unter den romantischen
Zeitgenossen die kaum erst von Neuem verstandene Herrlichkeit der shakespeare-
schen Dichtung priesen, so trieb ihn auch der Widerspruchsgeist, die Uever-
legenheit Shakespeares, vor der Welt zum mindesten, zu läugnen und an sei¬
nem Pope festzuhalten.

Doch zu seinem Heile war Byron am wenigsten der Mann, sein dich¬
terisches Schaffen unter die Leitung einer ästhetischen Theorie zu stellen. Er
war nicht jener denkenden Künstler Einer, an denen wir, wie an Milton und
den großen deutschen Dichtern, die wunderbare Verbindung von ursprünglicher,
ewig junger Begeisterung und klarer Einsicht in die Kunstgesetze bestaunen.
Kaum je hat ein Dichter so leicht, so unbewußt geschaffen; ein Kind der Stunde
warf er seine feurigen Verse hin und stand dann, in seiner Jugend mindestens,
urtheilslos vor dem Geschaffenen. Von seiner ersten großen Reise brachte er
heim eine Umschreibung der s.i-8 poetica, des Horaz, worauf er all seine pvpesche
Gelehrsamkeit verschwendet, und — „eine große Menge Stanzen in Spensers
Versmaß, die sich auf die durchpilgerten Länder beziehen." Von den Links
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zen aber, geschrieben an Bord, zu Pferd, mitten in Berg und Wald, wie die
Gunst des Augenblicks sie schenkte, waren — die ersten Gesänge des Childe
Harold. Als er dies Werk widerstrebend in den Druck gegeben hatte und die
entzückten Leser ihn alsbald zu den ersten Dichtern der Nation zählten, da
zeigte sichs, daß ein echter Dichter wohl mit seinen Theorien, aber nie mit
seiner Phantasie in Anachronismen leben, daß ein wahres DichtergemütK nie
eiwas Anderes widerspiegeln kann als die Ideen seiner Zeit. , Die Zeit aber,
deren Ideale Byron unbewußt dargestellt, war durchaus erfüllt von den Ge¬
danken der Romantik. Die deutsche Dichtung, die selber der Größe Shake¬
speares und der Laune Sternes so Vieles dankte, hatte den Lehrern die alte
Schuld reichlich heimgezahlt; die Ideen unserer Klassiker und unserer Roman¬
tiker wirkten zu gleicher Zeit auf die englische Literatur.

Durch Goethe vornehmlich lernten die englischen Lyriker wieder, die Na¬
tur treu und herzlich zu verstehen, und wie Goethe selbst dem deutschen Volks¬
lieds einige seiner schönsten Lieder nachgebildet hatte, so erschlossen jetzt Mac-
phersons Ossian und zahlreiche Sammlungen der irischen Sagen und der un¬
vergleichlichen altenglischen Balladen den Briten die poetischen Schätze ihrer
heimischen Vorzeit. Die Dichter der „Seeschule" gefielen sich noch in Schil¬
derungen, fast so breit und ausführlich, wie Pope sie geliebt hatte. Aber aus
diesen neuen Gedichten sprach nicht mehr der stubengelehrte Dichter des 18. Jahr-
Hunderts, der die Natur nur aus den saubern Taxushecken seines Gartens


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/14>, abgerufen am 22.12.2024.