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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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seines Gemüths. Es muß ihm gleichsam erst wieder ein Gewissen geschaffen
werden, und es muß an Stelle des oberflächlichen Phantasielebens ein tieferes
Gemüthsleben treten. Aber wie falsch es ist. dem italienischen Volk eine schöne
Zukunft für sein sittliches und religiöses Leben abzusprechen und in seiner natür¬
lichen Anlage einen Widerspruch gegen evangelische Bildung und Sitte zu er¬
kennen, das beweisen Hunderte von Männern, die ganz Italiener und ganz
Christen sind, das haben mir besonders die unter den Einfluß evangelischer Er¬
ziehung gestellten Kinder bewiesen. Etwas Schöneres kann man sich kaum
vorstellen, als solche dem Verderben entrissene und nun die ganze Herrlichkeit
italienischer Natur offenbarende Kinderseelen."

Die evangelische Bewegung in Italien ist bis jetzt, mit ihrer Aufgabe ver¬
glichen, ein kleiner Anfang. Es gehört Muth dazu, sich ihr anzuschließen, und
äußerlicher Gewinn erwartet die Uebertretenden nicht. Sie zerfällt in zwei
Parteien: die Waldenser und eine Anzahl aus dem Katholicismus hervvr-
gegangener Gemeinden, die sich italienische Brüder nennen.

Die Waldenser und ihre Predigt werden noch vielfach mit Vorurtheilen
ausgenommen. Sie gelten ihrer Sprache und Denkart wegen als Fremde, und
der Italiener will gegenwärtig nichts von Fremden wissen. Doch mindert sich
diese Abneigung in Betreff der Waldenser jetzt, da sie viel thun, um sich die
von italienischen Ohren ungern vermißte reine italienische Sprache mehr und mehr
anzueignen und auch nicht mehr so ängstlich auf Einführung der Kirchenverfassung
und der gottesdienstlichen Formen ihrer "Thäler" bedacht sind. Sie haben
Stationen in Turin, Genua, Mailand, Florenz, Livorno, Modena, auf der
Insel Elba, in Palermo und an noch etwa sechs andern weniger bekannten Orten.
Doch sind diese Städte häufig nur Mittelpunkte für größere Evangelisations-
bezirke, so daß zum Beispiel der Evangelist von Modena zugleich in Bologna und
anderwärts thätig ist. Im Ganzen mögen sich ohne Hinzurechnung der drei
"Thäler" (in Piemont) gegen 2000 Italiener zu dem waldensischen Gottes¬
dienste halten.

Der andere Zweig der Evangelisation, welcher der Richtung auf eine
selbständige italienische Reformation entspricht und sich gegen jedes auf fremdem
Boden erwachsene Kirchenwesen, auch gegen das waldensische, abschließt, hat
zum Princip einfache schriftgemäße Reproduktion des Urchristenthums und Ab¬
sehen von aller Ueberlieferung. Der Mittelpunkt dieser Bewegung ist Toskana.
besonders Florenz, und die Zahl der ihr Angehörigen in Norditalien mag die
der waldensischen Evangelisation noch um etwas übersteigen. Wenigstens ist
die Zahl ihrer Stationen bedeutend größer. Es gibt deren zu Turin, zu
Genua, Florenz, Mailand. Pavia, Brescia, Bologna, Pisa. Alessandria und
fünfzehn kleineren Orten. Die Evangelisten sind zum Theil frühere katholische
Priester, zum größern Theil aber Laien und theologisch nicht gebildet. An der


seines Gemüths. Es muß ihm gleichsam erst wieder ein Gewissen geschaffen
werden, und es muß an Stelle des oberflächlichen Phantasielebens ein tieferes
Gemüthsleben treten. Aber wie falsch es ist. dem italienischen Volk eine schöne
Zukunft für sein sittliches und religiöses Leben abzusprechen und in seiner natür¬
lichen Anlage einen Widerspruch gegen evangelische Bildung und Sitte zu er¬
kennen, das beweisen Hunderte von Männern, die ganz Italiener und ganz
Christen sind, das haben mir besonders die unter den Einfluß evangelischer Er¬
ziehung gestellten Kinder bewiesen. Etwas Schöneres kann man sich kaum
vorstellen, als solche dem Verderben entrissene und nun die ganze Herrlichkeit
italienischer Natur offenbarende Kinderseelen."

Die evangelische Bewegung in Italien ist bis jetzt, mit ihrer Aufgabe ver¬
glichen, ein kleiner Anfang. Es gehört Muth dazu, sich ihr anzuschließen, und
äußerlicher Gewinn erwartet die Uebertretenden nicht. Sie zerfällt in zwei
Parteien: die Waldenser und eine Anzahl aus dem Katholicismus hervvr-
gegangener Gemeinden, die sich italienische Brüder nennen.

Die Waldenser und ihre Predigt werden noch vielfach mit Vorurtheilen
ausgenommen. Sie gelten ihrer Sprache und Denkart wegen als Fremde, und
der Italiener will gegenwärtig nichts von Fremden wissen. Doch mindert sich
diese Abneigung in Betreff der Waldenser jetzt, da sie viel thun, um sich die
von italienischen Ohren ungern vermißte reine italienische Sprache mehr und mehr
anzueignen und auch nicht mehr so ängstlich auf Einführung der Kirchenverfassung
und der gottesdienstlichen Formen ihrer „Thäler" bedacht sind. Sie haben
Stationen in Turin, Genua, Mailand, Florenz, Livorno, Modena, auf der
Insel Elba, in Palermo und an noch etwa sechs andern weniger bekannten Orten.
Doch sind diese Städte häufig nur Mittelpunkte für größere Evangelisations-
bezirke, so daß zum Beispiel der Evangelist von Modena zugleich in Bologna und
anderwärts thätig ist. Im Ganzen mögen sich ohne Hinzurechnung der drei
„Thäler" (in Piemont) gegen 2000 Italiener zu dem waldensischen Gottes¬
dienste halten.

Der andere Zweig der Evangelisation, welcher der Richtung auf eine
selbständige italienische Reformation entspricht und sich gegen jedes auf fremdem
Boden erwachsene Kirchenwesen, auch gegen das waldensische, abschließt, hat
zum Princip einfache schriftgemäße Reproduktion des Urchristenthums und Ab¬
sehen von aller Ueberlieferung. Der Mittelpunkt dieser Bewegung ist Toskana.
besonders Florenz, und die Zahl der ihr Angehörigen in Norditalien mag die
der waldensischen Evangelisation noch um etwas übersteigen. Wenigstens ist
die Zahl ihrer Stationen bedeutend größer. Es gibt deren zu Turin, zu
Genua, Florenz, Mailand. Pavia, Brescia, Bologna, Pisa. Alessandria und
fünfzehn kleineren Orten. Die Evangelisten sind zum Theil frühere katholische
Priester, zum größern Theil aber Laien und theologisch nicht gebildet. An der


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[0320] seines Gemüths. Es muß ihm gleichsam erst wieder ein Gewissen geschaffen werden, und es muß an Stelle des oberflächlichen Phantasielebens ein tieferes Gemüthsleben treten. Aber wie falsch es ist. dem italienischen Volk eine schöne Zukunft für sein sittliches und religiöses Leben abzusprechen und in seiner natür¬ lichen Anlage einen Widerspruch gegen evangelische Bildung und Sitte zu er¬ kennen, das beweisen Hunderte von Männern, die ganz Italiener und ganz Christen sind, das haben mir besonders die unter den Einfluß evangelischer Er¬ ziehung gestellten Kinder bewiesen. Etwas Schöneres kann man sich kaum vorstellen, als solche dem Verderben entrissene und nun die ganze Herrlichkeit italienischer Natur offenbarende Kinderseelen." Die evangelische Bewegung in Italien ist bis jetzt, mit ihrer Aufgabe ver¬ glichen, ein kleiner Anfang. Es gehört Muth dazu, sich ihr anzuschließen, und äußerlicher Gewinn erwartet die Uebertretenden nicht. Sie zerfällt in zwei Parteien: die Waldenser und eine Anzahl aus dem Katholicismus hervvr- gegangener Gemeinden, die sich italienische Brüder nennen. Die Waldenser und ihre Predigt werden noch vielfach mit Vorurtheilen ausgenommen. Sie gelten ihrer Sprache und Denkart wegen als Fremde, und der Italiener will gegenwärtig nichts von Fremden wissen. Doch mindert sich diese Abneigung in Betreff der Waldenser jetzt, da sie viel thun, um sich die von italienischen Ohren ungern vermißte reine italienische Sprache mehr und mehr anzueignen und auch nicht mehr so ängstlich auf Einführung der Kirchenverfassung und der gottesdienstlichen Formen ihrer „Thäler" bedacht sind. Sie haben Stationen in Turin, Genua, Mailand, Florenz, Livorno, Modena, auf der Insel Elba, in Palermo und an noch etwa sechs andern weniger bekannten Orten. Doch sind diese Städte häufig nur Mittelpunkte für größere Evangelisations- bezirke, so daß zum Beispiel der Evangelist von Modena zugleich in Bologna und anderwärts thätig ist. Im Ganzen mögen sich ohne Hinzurechnung der drei „Thäler" (in Piemont) gegen 2000 Italiener zu dem waldensischen Gottes¬ dienste halten. Der andere Zweig der Evangelisation, welcher der Richtung auf eine selbständige italienische Reformation entspricht und sich gegen jedes auf fremdem Boden erwachsene Kirchenwesen, auch gegen das waldensische, abschließt, hat zum Princip einfache schriftgemäße Reproduktion des Urchristenthums und Ab¬ sehen von aller Ueberlieferung. Der Mittelpunkt dieser Bewegung ist Toskana. besonders Florenz, und die Zahl der ihr Angehörigen in Norditalien mag die der waldensischen Evangelisation noch um etwas übersteigen. Wenigstens ist die Zahl ihrer Stationen bedeutend größer. Es gibt deren zu Turin, zu Genua, Florenz, Mailand. Pavia, Brescia, Bologna, Pisa. Alessandria und fünfzehn kleineren Orten. Die Evangelisten sind zum Theil frühere katholische Priester, zum größern Theil aber Laien und theologisch nicht gebildet. An der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/320>, abgerufen am 20.10.2024.