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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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seinen durch das Studium der Kantschen Philosophie bewirkten Uebergang von
Spinoza'sehen Determinismus zur Anerkennung persönlicher Freiheit bezeichnet.

Gotthelf ist sein Liebling unter seinen Brüdern, neben dem nur noch Gott¬
lob öfters erwähnt wird; seiner -- nächst seinem stets am höchsten verehrten
Vater -- gedenkt er auch in dem Tagebuche über seine Reise nach Warschau
besonders herzlich (I. 119); ihn macht er schon hier sanft auf einen Fehler
aufmerksam; ihn sucht er, wie wir später sehen werden, ganz zu sich heran zu
bilden. An ihn ist auch der folgende Brief gerichtet, in welchem er mit größter
Offenheit über die -- an sich wohl ganz erklärlichen, ja von einem beschränk¬
ten Standpunkte aus sogar natürlichen -- Erwartungen und Zumuthungen
von Seiten seiner Familie (an denen namentlich seine Mutter wesentlichen
Antheil hatte; vgl. unten den 12. Brief) seinem Herzen Luft macht, wel¬
ches hier, erfreulicher Weise nur vorübergehend, einen ziemlich hohen Grad von
bitterer Gereiztheit zeigt, da er wie Faust "in seinem dunkeln Drange sich sei¬
nes rechten Weges wohl bewußt" war/ Diesem Bruder hatte er auch, wie der
Anfang dieses Briefes anzudeuten scheint, seine Vertheidigung gegen jene An¬
forderungen aufgetragen, welche freilich nicht gelang.
'"


Leipzig, d. 3. Immer. 1791.

Erst gestern, mein lieber Bruder, habe ich Deinen Brief erhalten,'und
heute antworte ich Dir, weil morgen Posttag ist. Schon sing ich an zu glauben,
mein lezter Brief sei zu hart gewesen; er rente mich, und ich war im Begrif
in einem gelindem Tone mich zu beklagen.

Dank Dir, Bruder, daß Du Deine Aufträge so richtig ausgerichtet hast,
daß er mich eben nicht mehr reuen darf. -- Doch reut er mich auch noch.
Ich habe Worte verlohren.

Ich fragte nicht etwan an. ob man meine Maasregeln billigte? Es scheint,
man hat meinen Brief falsch verstanden. Das weiß ich allemal schon vorher,
daß nie etwas wird gebilligt werden, was ich thue; und dies ist nun eben
auch mein geringster Kummer. Aber wie wäre auch das zu billigen, daß ich
schon wieder nicht in meinem Dienste g"blieben bin; daß ich wieder keinen
Herrn habe? Die Leute haben in ihrer Art ganz Recht. -- Ich fragte nur,
ob man mir etwan deswegen nicht schriebe, weil man meine Maasregeln
nicht billigte? Daß es mich verdroß, daß man that, als ob ich gar nicht mehr
in der Welt war, läugne ich nicht. Daß Du selbst. Bruder, so in ganzem
Ernste die Nachläßigkeit im Briefschreiben auf mich zurükschieben; daß Du das
ohne Erröthen niederschreiben; daß Du Deine Feder dazu leihen konntest, wun¬
dert mich doch. "Ich würde nicht geschrieben haben, wenn man mich
nicht aufgesucht hätte" -- El! wer ist denn so klug, daß er weiß, was ich
gethan haben würde? Ich kann im Gegentheil versichern, daß ich darum


Grenzboten lit. 1S62. 12

seinen durch das Studium der Kantschen Philosophie bewirkten Uebergang von
Spinoza'sehen Determinismus zur Anerkennung persönlicher Freiheit bezeichnet.

Gotthelf ist sein Liebling unter seinen Brüdern, neben dem nur noch Gott¬
lob öfters erwähnt wird; seiner — nächst seinem stets am höchsten verehrten
Vater — gedenkt er auch in dem Tagebuche über seine Reise nach Warschau
besonders herzlich (I. 119); ihn macht er schon hier sanft auf einen Fehler
aufmerksam; ihn sucht er, wie wir später sehen werden, ganz zu sich heran zu
bilden. An ihn ist auch der folgende Brief gerichtet, in welchem er mit größter
Offenheit über die — an sich wohl ganz erklärlichen, ja von einem beschränk¬
ten Standpunkte aus sogar natürlichen — Erwartungen und Zumuthungen
von Seiten seiner Familie (an denen namentlich seine Mutter wesentlichen
Antheil hatte; vgl. unten den 12. Brief) seinem Herzen Luft macht, wel¬
ches hier, erfreulicher Weise nur vorübergehend, einen ziemlich hohen Grad von
bitterer Gereiztheit zeigt, da er wie Faust „in seinem dunkeln Drange sich sei¬
nes rechten Weges wohl bewußt" war/ Diesem Bruder hatte er auch, wie der
Anfang dieses Briefes anzudeuten scheint, seine Vertheidigung gegen jene An¬
forderungen aufgetragen, welche freilich nicht gelang.
'"


Leipzig, d. 3. Immer. 1791.

Erst gestern, mein lieber Bruder, habe ich Deinen Brief erhalten,'und
heute antworte ich Dir, weil morgen Posttag ist. Schon sing ich an zu glauben,
mein lezter Brief sei zu hart gewesen; er rente mich, und ich war im Begrif
in einem gelindem Tone mich zu beklagen.

Dank Dir, Bruder, daß Du Deine Aufträge so richtig ausgerichtet hast,
daß er mich eben nicht mehr reuen darf. — Doch reut er mich auch noch.
Ich habe Worte verlohren.

Ich fragte nicht etwan an. ob man meine Maasregeln billigte? Es scheint,
man hat meinen Brief falsch verstanden. Das weiß ich allemal schon vorher,
daß nie etwas wird gebilligt werden, was ich thue; und dies ist nun eben
auch mein geringster Kummer. Aber wie wäre auch das zu billigen, daß ich
schon wieder nicht in meinem Dienste g«blieben bin; daß ich wieder keinen
Herrn habe? Die Leute haben in ihrer Art ganz Recht. — Ich fragte nur,
ob man mir etwan deswegen nicht schriebe, weil man meine Maasregeln
nicht billigte? Daß es mich verdroß, daß man that, als ob ich gar nicht mehr
in der Welt war, läugne ich nicht. Daß Du selbst. Bruder, so in ganzem
Ernste die Nachläßigkeit im Briefschreiben auf mich zurükschieben; daß Du das
ohne Erröthen niederschreiben; daß Du Deine Feder dazu leihen konntest, wun¬
dert mich doch. „Ich würde nicht geschrieben haben, wenn man mich
nicht aufgesucht hätte" — El! wer ist denn so klug, daß er weiß, was ich
gethan haben würde? Ich kann im Gegentheil versichern, daß ich darum


Grenzboten lit. 1S62. 12
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/97>, abgerufen am 26.06.2024.