Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.und fragmentarisch, von andern, namentlich den letzten Jahrhunderten des Freilich empfindet diese Uebelstände noch mehr, wer eine Geschichte des Aber das ist nicht die größte Schwierigkeit. Weit störender ist ein anderer Grenzboten III. 1362. 3
und fragmentarisch, von andern, namentlich den letzten Jahrhunderten des Freilich empfindet diese Uebelstände noch mehr, wer eine Geschichte des Aber das ist nicht die größte Schwierigkeit. Weit störender ist ein anderer Grenzboten III. 1362. 3
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0065" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/114379"/> <p xml:id="ID_216" prev="#ID_215"> und fragmentarisch, von andern, namentlich den letzten Jahrhunderten des<lb/> Mittelalters, ist ein massenhaftes Material, dessen Reichthum und innern Zu¬<lb/> sammenhang wir noch gar nicht Übersechen, und das zum großen Theil schwer<lb/> zugänglich ist, in Städtechrvniken und Archiven zerstreut. Auch wer wie Souchay<lb/> M darauf beschränkt, eine Geschichte der großen politischen Ereignisse zu<lb/> schreiben, hat bei jedem Schritt die Unsicherheit, Unzuverlässigkeit oder die Un¬<lb/> übersehbarkeit des vorhandenen Materials, zu beklage».</p><lb/> <p xml:id="ID_217"> Freilich empfindet diese Uebelstände noch mehr, wer eine Geschichte des<lb/> Volkes schreiben will, seines Charakters, seiner praktischen und idealen Verhält¬<lb/> nisse; denn für solche Arbeit findet er die wichtigsten Fragen, z. B. über Produc-<lb/> tion und Konsumtion, die sociale Lage des Volkes in jeder Periode vor der<lb/> Reformation, über die Bildung der Stände sogar in ihrem Detail als wenig gelöst,<lb/> überall schweben die Untersuchungen in Controversen, gehen die Ansichten weit<lb/> auseinander; man ist durchaus in der Lage, selbst den ganzen Umfang der<lb/> alten Quellenschriften zu durchwandern, mühsam sich aus mangelhaftem Material<lb/> Anschauungen zu bilden und neue Beweise für eigene Ueberzeugungen suchen<lb/> zu müssen.</p><lb/> <p xml:id="ID_218" next="#ID_219"> Aber das ist nicht die größte Schwierigkeit. Weit störender ist ein anderer<lb/> Uebelstand, daß im Leben und Charakter unsrer deutschen Vorfahren für uns<lb/> etwas besonders schwer Verständliches liegt, was uns politische Größen des<lb/> Mittelalters und noch mehr die Zustände des Volkes wie mit einem<lb/> Nebel umhüllt, und uns schwerer macht, die Seele eines Fürstensohnes aus<lb/> der Zeit Otto des Großen, als die eines Römers aus der Zeit des zweiten<lb/> punischen Krieges oder selbst der Zwölftafelgesetze zu verstehen. Bis in die<lb/> neue Zeit haben unsere Historiker sich die Sache freilich leicht gemacht. Sie<lb/> Muren schnell fertig, den überlieferten Bericht über das, was geschehen war,<lb/> dadurch zu ergänzen, daß sie das Wie und Warum dazu erfanden, Motive des<lb/> Handelns substituirten, welche dem modernen Menschen geläufig sind, nahe an-<lb/> einanderliegende Begebenheiten in Kausalnexus brachten. Das ist noch lange<lb/> nach der Periode der pragmatischen Geschichtsschreibung mit einer Unbefangen¬<lb/> heit geschehen, welche auch namhaften Geschichrswerken für den, der näher<lb/> zusieht, einen unheimlichen romanhaften Anstrich gibt. Allerdings ist das<lb/> Ergänzen geschichtlicher Ueberlieferungen, das Combiniren und Vermuthen dem<lb/> Historiker durchaus unentbehrlich, ohne solche divinatorische Thätigkeit wäre Ge¬<lb/> schichtsschreibung überhaupt unmöglich. Was bei der deutschen Geschichtsschrei¬<lb/> bung des Mittelalters zunächst verletzt, ist die unbefangene Selbstgefälligkeit<lb/> und die kurzsichtige Spießbürgerei, mit welcher dergleichen geschehen ist. Auch<lb/> der Mangel an Wahrhaftigkeit. Denn es scheint uns. daß der Historiker den<lb/> Leser b^el keiner wichtigen Gelegenheit, wenigstens da nicht in Zweifel über Ueber-<lb/> liefertes oder von ihm dazu Gethanes lassen sollte, wo er ein einzelnes Factum</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1362. 3</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0065]
und fragmentarisch, von andern, namentlich den letzten Jahrhunderten des
Mittelalters, ist ein massenhaftes Material, dessen Reichthum und innern Zu¬
sammenhang wir noch gar nicht Übersechen, und das zum großen Theil schwer
zugänglich ist, in Städtechrvniken und Archiven zerstreut. Auch wer wie Souchay
M darauf beschränkt, eine Geschichte der großen politischen Ereignisse zu
schreiben, hat bei jedem Schritt die Unsicherheit, Unzuverlässigkeit oder die Un¬
übersehbarkeit des vorhandenen Materials, zu beklage».
Freilich empfindet diese Uebelstände noch mehr, wer eine Geschichte des
Volkes schreiben will, seines Charakters, seiner praktischen und idealen Verhält¬
nisse; denn für solche Arbeit findet er die wichtigsten Fragen, z. B. über Produc-
tion und Konsumtion, die sociale Lage des Volkes in jeder Periode vor der
Reformation, über die Bildung der Stände sogar in ihrem Detail als wenig gelöst,
überall schweben die Untersuchungen in Controversen, gehen die Ansichten weit
auseinander; man ist durchaus in der Lage, selbst den ganzen Umfang der
alten Quellenschriften zu durchwandern, mühsam sich aus mangelhaftem Material
Anschauungen zu bilden und neue Beweise für eigene Ueberzeugungen suchen
zu müssen.
Aber das ist nicht die größte Schwierigkeit. Weit störender ist ein anderer
Uebelstand, daß im Leben und Charakter unsrer deutschen Vorfahren für uns
etwas besonders schwer Verständliches liegt, was uns politische Größen des
Mittelalters und noch mehr die Zustände des Volkes wie mit einem
Nebel umhüllt, und uns schwerer macht, die Seele eines Fürstensohnes aus
der Zeit Otto des Großen, als die eines Römers aus der Zeit des zweiten
punischen Krieges oder selbst der Zwölftafelgesetze zu verstehen. Bis in die
neue Zeit haben unsere Historiker sich die Sache freilich leicht gemacht. Sie
Muren schnell fertig, den überlieferten Bericht über das, was geschehen war,
dadurch zu ergänzen, daß sie das Wie und Warum dazu erfanden, Motive des
Handelns substituirten, welche dem modernen Menschen geläufig sind, nahe an-
einanderliegende Begebenheiten in Kausalnexus brachten. Das ist noch lange
nach der Periode der pragmatischen Geschichtsschreibung mit einer Unbefangen¬
heit geschehen, welche auch namhaften Geschichrswerken für den, der näher
zusieht, einen unheimlichen romanhaften Anstrich gibt. Allerdings ist das
Ergänzen geschichtlicher Ueberlieferungen, das Combiniren und Vermuthen dem
Historiker durchaus unentbehrlich, ohne solche divinatorische Thätigkeit wäre Ge¬
schichtsschreibung überhaupt unmöglich. Was bei der deutschen Geschichtsschrei¬
bung des Mittelalters zunächst verletzt, ist die unbefangene Selbstgefälligkeit
und die kurzsichtige Spießbürgerei, mit welcher dergleichen geschehen ist. Auch
der Mangel an Wahrhaftigkeit. Denn es scheint uns. daß der Historiker den
Leser b^el keiner wichtigen Gelegenheit, wenigstens da nicht in Zweifel über Ueber-
liefertes oder von ihm dazu Gethanes lassen sollte, wo er ein einzelnes Factum
Grenzboten III. 1362. 3
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