Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.Volkscharakters abgehen. Daß solcher Erwerb in der Studierstube unsrer Ge¬ Der Verfasser des oben angezeigten Werkes gehört zu den wenigen, welche Freilich hat die Darstellung der geschichtlichen Entwicklung unserer Nation Die unermeßliche Schwierigkeit aber liegt nur zum kleinsten Theile in der Volkscharakters abgehen. Daß solcher Erwerb in der Studierstube unsrer Ge¬ Der Verfasser des oben angezeigten Werkes gehört zu den wenigen, welche Freilich hat die Darstellung der geschichtlichen Entwicklung unserer Nation Die unermeßliche Schwierigkeit aber liegt nur zum kleinsten Theile in der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0064" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/114378"/> <p xml:id="ID_212" prev="#ID_211"> Volkscharakters abgehen. Daß solcher Erwerb in der Studierstube unsrer Ge¬<lb/> lehrten bis zur Neuzeit nicht ganz leicht wurde, hat unsere Geschichtsschreibung<lb/> lange als ein Unglück empfunden; denn innere Unsicherheit hat auch<lb/> glänzenden Werken deutscher Gelehrten eigenthümliche Mängel gegeben.<lb/> Erst die Neuzeit bessert diesen Fehler. Noch ist's nicht lange her. daß wir<lb/> nach dem politischen Charakter des Geschichtsschreibers zu fragen wagen und<lb/> daß wir die Ueberzeugung hegen, kein Historiker könne unparteiisch in<lb/> großem Sinne Geschichte schreiben, wenn er nicht selbst einer politischen Par¬<lb/> tei angehöre. Es kommt freilich darauf an. ob der besten seiner Zeit.</p><lb/> <p xml:id="ID_213"> Der Verfasser des oben angezeigten Werkes gehört zu den wenigen, welche<lb/> nach einem reichen Leben voll von praktischer Thätigkeit und großen Erfahrungen<lb/> die Muße ihres reifern Alters solcher ehrenwerthen und anstrengenden Thätig¬<lb/> keit gewidmet haben. Er bringt dazu einen fertigen, wohlgeprüften politischen<lb/> Charakter, Festigkeit in Liebe und Haß. eine Fülle von Anschauungen, die er<lb/> in der Negierung und den Geschäften einer freien Reichsstadt, in dem viel-<lb/> jährigen Verkehr mit Staatsmännern und Gelehrten und mit dem Volke ge¬<lb/> sammelt hat. Er befilzt eine freie menschliche Bildung, eine große Arbeits¬<lb/> kraft, eine reiche Kenntniß unsrer geschichtlichen Literatur, er hat selbst<lb/> fleißig in den Quellen gelesen, er ist endlich mit maßvollen Urtheil begabt<lb/> und erfreut sich einer von den besten Eigenschaften des Historikers, er<lb/> hat einen Instinkt für das Wahre. Was man mit so guter Ausrüstung in<lb/> deutscher Geschichtschreibung leisten kann, das hat er zuverlässig geleistet. Sein<lb/> Werk, das von den ersten Anfängen unsrer Geschichte bis auf Karl den Fünf¬<lb/> ten reicht, macht überall den Eindruck einer ehrlichen, gewissenhaften Arbeit,<lb/> die Erzählung ist einfach und schmucklos, aber bei verständigem Anschluß an<lb/> die besten Schriftsteller gut lesbar. Nicht selten erfreut ein besonders feines Ur¬<lb/> theil, guter kritischer Blick, häufig ein praktischer Verstand, und die Unbe¬<lb/> fangenheit und Männlichkeit bei Beurtheilung von Charakteren und Zuständen.<lb/> Und nach diesen Richtungen darf das Werk unsern Lesern angelegentlich em-<lb/> pfehlen werden, es ist für Lectüre wie zum Nachschlagen willkommen, durch die<lb/> zahlreichen Citate auch er der Literatur unserer Geschichte orientirend.</p><lb/> <p xml:id="ID_214"> Freilich hat die Darstellung der geschichtlichen Entwicklung unserer Nation<lb/> im Mittelalter Schwierigkeiten, welche zur Zeit noch fast unüberwindlich sind,<lb/> für alle Folgezeit die Geschichte dieser Periode zu einer der schwersten Aufgaben<lb/> machen werden. Und das Werk Souchays. wie ehrenwerth die Arbeit<lb/> daran ist. erhebt nicht den Anspruch, für eine Lösung des großen Problems<lb/> zu gelten.</p><lb/> <p xml:id="ID_215" next="#ID_216"> Die unermeßliche Schwierigkeit aber liegt nur zum kleinsten Theile in der<lb/> Beschaffenheit der Quellen. Von einzelnen Zeiträumen, und nicht nur von den<lb/> frühesten, sind die erhaltenen Berichte der Zeitgenossen durchaus ungenügend</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0064]
Volkscharakters abgehen. Daß solcher Erwerb in der Studierstube unsrer Ge¬
lehrten bis zur Neuzeit nicht ganz leicht wurde, hat unsere Geschichtsschreibung
lange als ein Unglück empfunden; denn innere Unsicherheit hat auch
glänzenden Werken deutscher Gelehrten eigenthümliche Mängel gegeben.
Erst die Neuzeit bessert diesen Fehler. Noch ist's nicht lange her. daß wir
nach dem politischen Charakter des Geschichtsschreibers zu fragen wagen und
daß wir die Ueberzeugung hegen, kein Historiker könne unparteiisch in
großem Sinne Geschichte schreiben, wenn er nicht selbst einer politischen Par¬
tei angehöre. Es kommt freilich darauf an. ob der besten seiner Zeit.
Der Verfasser des oben angezeigten Werkes gehört zu den wenigen, welche
nach einem reichen Leben voll von praktischer Thätigkeit und großen Erfahrungen
die Muße ihres reifern Alters solcher ehrenwerthen und anstrengenden Thätig¬
keit gewidmet haben. Er bringt dazu einen fertigen, wohlgeprüften politischen
Charakter, Festigkeit in Liebe und Haß. eine Fülle von Anschauungen, die er
in der Negierung und den Geschäften einer freien Reichsstadt, in dem viel-
jährigen Verkehr mit Staatsmännern und Gelehrten und mit dem Volke ge¬
sammelt hat. Er befilzt eine freie menschliche Bildung, eine große Arbeits¬
kraft, eine reiche Kenntniß unsrer geschichtlichen Literatur, er hat selbst
fleißig in den Quellen gelesen, er ist endlich mit maßvollen Urtheil begabt
und erfreut sich einer von den besten Eigenschaften des Historikers, er
hat einen Instinkt für das Wahre. Was man mit so guter Ausrüstung in
deutscher Geschichtschreibung leisten kann, das hat er zuverlässig geleistet. Sein
Werk, das von den ersten Anfängen unsrer Geschichte bis auf Karl den Fünf¬
ten reicht, macht überall den Eindruck einer ehrlichen, gewissenhaften Arbeit,
die Erzählung ist einfach und schmucklos, aber bei verständigem Anschluß an
die besten Schriftsteller gut lesbar. Nicht selten erfreut ein besonders feines Ur¬
theil, guter kritischer Blick, häufig ein praktischer Verstand, und die Unbe¬
fangenheit und Männlichkeit bei Beurtheilung von Charakteren und Zuständen.
Und nach diesen Richtungen darf das Werk unsern Lesern angelegentlich em-
pfehlen werden, es ist für Lectüre wie zum Nachschlagen willkommen, durch die
zahlreichen Citate auch er der Literatur unserer Geschichte orientirend.
Freilich hat die Darstellung der geschichtlichen Entwicklung unserer Nation
im Mittelalter Schwierigkeiten, welche zur Zeit noch fast unüberwindlich sind,
für alle Folgezeit die Geschichte dieser Periode zu einer der schwersten Aufgaben
machen werden. Und das Werk Souchays. wie ehrenwerth die Arbeit
daran ist. erhebt nicht den Anspruch, für eine Lösung des großen Problems
zu gelten.
Die unermeßliche Schwierigkeit aber liegt nur zum kleinsten Theile in der
Beschaffenheit der Quellen. Von einzelnen Zeiträumen, und nicht nur von den
frühesten, sind die erhaltenen Berichte der Zeitgenossen durchaus ungenügend
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