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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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genossen dem Druck, der auf ihnen lastete, nicht alle erlegen sind. Aber kein
Wunder ist es, wenn man hier und da auch Spuren von Lauheit antrifft,
wenn man namentlich erfahren muß, wie viele Protestanten in Mischehen sich
die Erklärung abbringen lassen, daß ihre Kinder katholisch erzogen werden sol¬
len. Sie haben eben als Schulkinder selbst nur dürftige Erkenntniß von den
Vorzügen ihrer Kirche gewonnen, sie haben von ihren katholischen Schullehrern
aller Wahrscheinlichkeit nach sogar Nachtheiliges über dieselbe gehört. Wie
sollte sie ihnen da lieb und werth sein!

Im Hinblick hierauf hat der Centralvorstand der Gustav-Adolf-Stiftung
es seit 1860 für dringend geboten erachtet, die böhmischen und mährischen Ge¬
meinden vor Allem zur Mehrung der Schulen in ihren weiten Pfarrsprengeln
zu ermuntern und zu unterstützen und besonders dafür sorgen zu helfen, daß
die erforderlichen Lehrkräfte gewonnen werden. Bisher bestand in ganz Oest¬
reich --^ Ungarn ausgenommen -- kein evangelisches Lehrerseminar. Jetzt
denkt man in Wien für die südlichen nichtungarischen Provinzen ein solches zu
gründen, und zu gleicher Zeit hegt man die Absicht, in Bielitz. einer gewerb¬
lichen Stadt des östreichischen Schlesien, welche in ihrer Mitte und der näch¬
sten Umgebung gegen 10,000 Evangelische zählt, ebenfalls eine Bildungsanstalt
für protestantische Volksschullehrer zu errichten. Bielitz. mit dem nahen Teschen,
wo sich ein gutes evangelisches Gymnasium befindet, vereinigt alles Erforder¬
liche in sich, um für ganz Nvrdöstreich der Pulsirende Mittelpunkt evangelischen
Lebens zu werden.

Wir schließen diesen Ueberblick über die nordöstreichische Diaspora mit
einem Blick auf einen Lorfall, der sehr charakteristisch ist. In dem böhmischen
Amtsbezirk semit am Fuß des Riesengebirgs befinden sich einige jener Schluch¬
ten und Höhlen, in denen die Evangelischen in der Zeit der Verfolgung ihre
heimlichen Gottesdienste hielten. Noch sieht man hier den alten Hussitenkelch
in den Stein gemeißelt und daneben die Anfangsbuchstaben der czechischen
Worte: "Der Leib und das Blut des Herrn". Dicht dabei liegt das Dörfchen
Spalvv, 43 Nummern zählend, sehr arm und bis vor Kurzem katholisch wie die
ganze Nachbarschaft. Die nächste protestantische Gemeinde, Krischlitz, ist fast
fünf Stunden von dort entfernt. Nun erschienen im März 1860 ber dem dor¬
tigen Pfarrer Molnar zwei Bauern aus Spalvv, um ihm zu erklären, daß sie
und die ganze Gemeinde den Entschluß gefaßt, zum evangelischen Glauben
überzutreten. Molnar machte sie auf die gesetzlichen Bestimmungen aufmerksam
und entließ sie. Bald aber kamen sie wieder und brachten ihm die Ueber-
trittsbescheinigungen, und im September des genannten Jahres konnten bereits
63 Personen in die protestantische Kirche aufgenommen werden. Im Decem¬
ber fand der erste Gottesdienst der neuen Gemeinde mit Abendmahlsfeier statt,
dem eine große Anzahl katholischer Nachbarn beiwohnten, von denen viele er-


genossen dem Druck, der auf ihnen lastete, nicht alle erlegen sind. Aber kein
Wunder ist es, wenn man hier und da auch Spuren von Lauheit antrifft,
wenn man namentlich erfahren muß, wie viele Protestanten in Mischehen sich
die Erklärung abbringen lassen, daß ihre Kinder katholisch erzogen werden sol¬
len. Sie haben eben als Schulkinder selbst nur dürftige Erkenntniß von den
Vorzügen ihrer Kirche gewonnen, sie haben von ihren katholischen Schullehrern
aller Wahrscheinlichkeit nach sogar Nachtheiliges über dieselbe gehört. Wie
sollte sie ihnen da lieb und werth sein!

Im Hinblick hierauf hat der Centralvorstand der Gustav-Adolf-Stiftung
es seit 1860 für dringend geboten erachtet, die böhmischen und mährischen Ge¬
meinden vor Allem zur Mehrung der Schulen in ihren weiten Pfarrsprengeln
zu ermuntern und zu unterstützen und besonders dafür sorgen zu helfen, daß
die erforderlichen Lehrkräfte gewonnen werden. Bisher bestand in ganz Oest¬
reich --^ Ungarn ausgenommen — kein evangelisches Lehrerseminar. Jetzt
denkt man in Wien für die südlichen nichtungarischen Provinzen ein solches zu
gründen, und zu gleicher Zeit hegt man die Absicht, in Bielitz. einer gewerb¬
lichen Stadt des östreichischen Schlesien, welche in ihrer Mitte und der näch¬
sten Umgebung gegen 10,000 Evangelische zählt, ebenfalls eine Bildungsanstalt
für protestantische Volksschullehrer zu errichten. Bielitz. mit dem nahen Teschen,
wo sich ein gutes evangelisches Gymnasium befindet, vereinigt alles Erforder¬
liche in sich, um für ganz Nvrdöstreich der Pulsirende Mittelpunkt evangelischen
Lebens zu werden.

Wir schließen diesen Ueberblick über die nordöstreichische Diaspora mit
einem Blick auf einen Lorfall, der sehr charakteristisch ist. In dem böhmischen
Amtsbezirk semit am Fuß des Riesengebirgs befinden sich einige jener Schluch¬
ten und Höhlen, in denen die Evangelischen in der Zeit der Verfolgung ihre
heimlichen Gottesdienste hielten. Noch sieht man hier den alten Hussitenkelch
in den Stein gemeißelt und daneben die Anfangsbuchstaben der czechischen
Worte: „Der Leib und das Blut des Herrn". Dicht dabei liegt das Dörfchen
Spalvv, 43 Nummern zählend, sehr arm und bis vor Kurzem katholisch wie die
ganze Nachbarschaft. Die nächste protestantische Gemeinde, Krischlitz, ist fast
fünf Stunden von dort entfernt. Nun erschienen im März 1860 ber dem dor¬
tigen Pfarrer Molnar zwei Bauern aus Spalvv, um ihm zu erklären, daß sie
und die ganze Gemeinde den Entschluß gefaßt, zum evangelischen Glauben
überzutreten. Molnar machte sie auf die gesetzlichen Bestimmungen aufmerksam
und entließ sie. Bald aber kamen sie wieder und brachten ihm die Ueber-
trittsbescheinigungen, und im September des genannten Jahres konnten bereits
63 Personen in die protestantische Kirche aufgenommen werden. Im Decem¬
ber fand der erste Gottesdienst der neuen Gemeinde mit Abendmahlsfeier statt,
dem eine große Anzahl katholischer Nachbarn beiwohnten, von denen viele er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/53>, abgerufen am 11.02.2025.