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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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und Neuseeländer würden Präfecten, Code und Censur bekommen, wenn sie
uns erst angehörten, sie haben das kleinste Maß von Menschen als Grundmaß
angenommen, alles Andre wird abgehauen und wie die Rasenplätze glatt geschoren
und gleich gewälzt." -- In andrer Weise wirkte Boisseree für deutsches Wesen.
Aus Köln gebürtig, hatte er in Hamburg in Reimarus' Kreise einige Jahre zu¬
gebracht, die ihn der deutschen Literatur gewannen; nach seiner Rückkehr begann
er die Kunstschätze seiner Vaterstadt zu studiren und mit gleichgesinnten Freun¬
den Bilder der deutschen Schule anzukaufen; mit seinem Bruder erforschte er
am Dome die Gesetze der gothischen Baukunst. Wie die Gebrüder Grimm
die mittelhochdeutschen Dichtungen wieder entdeckten, so haben die Boisser6e's
deutsche Malerei und Baukunst wieder gefunden und durch geschichtliche und künst¬
lerische Forschung und Darstellung dem Verständniß näher gebracht.

Perthes theilt den zweiten Abschnitt seines Buches in vier Theile, Dal-
berg und sein Land, die unselbständigen Rheinbundstaaten des westlichen
Deutschlands, Bayern und Würtemberg.

Dalberg ist ein schlagendes Beispiel für die Wahrheit, daß alle Begabung
ohne Charakter in öffentlichen Verhältnissen zu nichts führt. Aus einer alten
reichsritterlichen Familie entsprossen, zeichnete er sich früh aus und ward bereits
im 28. Jahre zum kurmainzischen Statthalter in Erfurt ernannt. Ohne gründ¬
liches Wissen und wirkliche Durchbildung hatte er einen lebhaften Trieb Kennt¬
nisse zu verbreiten und den unruhigen Eifer seine Untergebenen aufzuklären, er
schrieb bald über Aesthetik, bald über Chemie, heute über CKristentbum und morgen
über Criminalgesetze, er trat in Verbindung mit dem weimarscher Hofe, er förderte
Schiller und stand in lebhaftem Verkehr mit Wilhelm von Humboldt, der an ihn
seine Ideen über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates richtete, um die Viel-
regiererei zu bekämpfen, freilich ohne Erfolg. Er gewann vielfache Anerkennung,
aber kein volles festes Vertrauen, wie es für den Staatsmann nothwendig ist;
dieser Mangel zeigte sich weniger in Erfurt, wo er als Statthalter ^ ein kleines
Gebiet regierte, aber desto mehr, sobald er in größere Verhältnisse übergriff.
Er wünschte Coadjutor und Nachfolgn des Kurfürsten von Mainz zu werden,
benahm sich aber so. daß die preußische Partei ihn für östreichisch, die östreichische
für preußisch gesinnt hielt. Als er endlich durch preußischen Einfluß gewählt
ward, trat er zwar dem Fürstenbunde bei. sandte aber gleichzeitig ein Schreiben
an Kaiser Joseph, das demselben als Beweis vollkommener politischer Hin¬
gebung erschien. Als die Stürme der Revolution ausbrachen, suchte Dalberg
seine Befriedigung in theoretischen Untersuchungen über Regierungskunst und
schöne Künste; als die Gefahr näher rückte, verlangte er die Ernennung Erz¬
herzog Karls zum Dictator; als er sah, daß nach dem Frieden von Campo
Formio die Säkularisation unvermeidlich war, warf er sich Napoleon in die
Arme. Durch dessen Gunst behielt er allein von allen geistlichen Herren eine


und Neuseeländer würden Präfecten, Code und Censur bekommen, wenn sie
uns erst angehörten, sie haben das kleinste Maß von Menschen als Grundmaß
angenommen, alles Andre wird abgehauen und wie die Rasenplätze glatt geschoren
und gleich gewälzt." — In andrer Weise wirkte Boisseree für deutsches Wesen.
Aus Köln gebürtig, hatte er in Hamburg in Reimarus' Kreise einige Jahre zu¬
gebracht, die ihn der deutschen Literatur gewannen; nach seiner Rückkehr begann
er die Kunstschätze seiner Vaterstadt zu studiren und mit gleichgesinnten Freun¬
den Bilder der deutschen Schule anzukaufen; mit seinem Bruder erforschte er
am Dome die Gesetze der gothischen Baukunst. Wie die Gebrüder Grimm
die mittelhochdeutschen Dichtungen wieder entdeckten, so haben die Boisser6e's
deutsche Malerei und Baukunst wieder gefunden und durch geschichtliche und künst¬
lerische Forschung und Darstellung dem Verständniß näher gebracht.

Perthes theilt den zweiten Abschnitt seines Buches in vier Theile, Dal-
berg und sein Land, die unselbständigen Rheinbundstaaten des westlichen
Deutschlands, Bayern und Würtemberg.

Dalberg ist ein schlagendes Beispiel für die Wahrheit, daß alle Begabung
ohne Charakter in öffentlichen Verhältnissen zu nichts führt. Aus einer alten
reichsritterlichen Familie entsprossen, zeichnete er sich früh aus und ward bereits
im 28. Jahre zum kurmainzischen Statthalter in Erfurt ernannt. Ohne gründ¬
liches Wissen und wirkliche Durchbildung hatte er einen lebhaften Trieb Kennt¬
nisse zu verbreiten und den unruhigen Eifer seine Untergebenen aufzuklären, er
schrieb bald über Aesthetik, bald über Chemie, heute über CKristentbum und morgen
über Criminalgesetze, er trat in Verbindung mit dem weimarscher Hofe, er förderte
Schiller und stand in lebhaftem Verkehr mit Wilhelm von Humboldt, der an ihn
seine Ideen über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates richtete, um die Viel-
regiererei zu bekämpfen, freilich ohne Erfolg. Er gewann vielfache Anerkennung,
aber kein volles festes Vertrauen, wie es für den Staatsmann nothwendig ist;
dieser Mangel zeigte sich weniger in Erfurt, wo er als Statthalter ^ ein kleines
Gebiet regierte, aber desto mehr, sobald er in größere Verhältnisse übergriff.
Er wünschte Coadjutor und Nachfolgn des Kurfürsten von Mainz zu werden,
benahm sich aber so. daß die preußische Partei ihn für östreichisch, die östreichische
für preußisch gesinnt hielt. Als er endlich durch preußischen Einfluß gewählt
ward, trat er zwar dem Fürstenbunde bei. sandte aber gleichzeitig ein Schreiben
an Kaiser Joseph, das demselben als Beweis vollkommener politischer Hin¬
gebung erschien. Als die Stürme der Revolution ausbrachen, suchte Dalberg
seine Befriedigung in theoretischen Untersuchungen über Regierungskunst und
schöne Künste; als die Gefahr näher rückte, verlangte er die Ernennung Erz¬
herzog Karls zum Dictator; als er sah, daß nach dem Frieden von Campo
Formio die Säkularisation unvermeidlich war, warf er sich Napoleon in die
Arme. Durch dessen Gunst behielt er allein von allen geistlichen Herren eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/516>, abgerufen am 06.02.2025.