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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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"echt, und bis in die neueste Zeit diente den Landleuten Appenzells. die nach
dem alten deutschen Satze "Selbst ist der Mann" keine Neigung hatten, die
Gerichte mit Injurienklagen zu incommvdiren, eine eigenthümliche Art des Zwei¬
kampfes als Mittel Genugthuung zu erlangen. Der Beleidigte forderte den
Beleidiger zum Faustkampf heraus, der nach unserer Quelle folgendermaßen ge¬
regelt war:

,,t) Ein solcher Kampf soll immer unter freiem Himmel abgemacht werden,
nickt in einem Hause, besonders nicht in einem Wirthshause. 2) Es sollen
mehre Zeugen zugegen sein. 3) Es muß eine förmliche Herausforderung statt¬
gefunden, und es müssen beide in den Kampf gewilligt haben. 4) Die Kämpfer
sollen keine Schlagringe und andere Fingerringe tragen, einander nicht boshafter
Weise auf den Bauch schlagen oder stoßen, noch an andere empfindliche Theile ge¬
fährliche Griffe thun; wer dawider handelt, soll als schlechter Kerl angesehen wer¬
den." Ist einer von den Kämpfenden vollständig zu Boden geschlagen, so ist
der Streit entschieden. Kämpfer und Zeugen gehen dann in ein Wirthshaus,
um "den Frieden zu trinken". Kann ein Landmann die Herausforderung wegen
zu großer Überlegenheit des Gegners nicht annehmen, so mag er diesem durch
den Landweibel Frieden anbieten lassen, der bei Strafe an Leib und Ehre
gehalten werden muß.

Schlägereien außerhalb dieses Faustrechts sind als Frevel bei Geldbuße
untersagt. Trifft ein Appenzeller Leute bei einer ungesetzlichen Schlägerei, so
hat er die Pflicht "Frieden zu gebieten". Die Streitenden müssen seiner Auf¬
forderung, wenn sie nicht gestraft werden wollen, gehorchen. Selbst Weiber
können Frieden gebieten. Hand und Mund derer, denen Frieden geboten ist,
sind gebannt, so daß jeder weitere Angriff auf den Andern als Bruch des
höhern Friedens, den man als Verstärkung des allgemeinen Landfriedens nehmen
kann, schwere Folgen hat'. Ein anderes Stück des alten Friedensrechts hat sich
darin erhalten, daß Frevel und Schlägerei an Kirchweihen. Jahrmärkten und
Landsgemeinden sowie zu Neujahr und Aschermittwoch mit der großen Buße
belegt werden; doch muß diese zuvor vom Landweibel ausgerufen worden sein.

Interessant ist das Criminalvcrfahren in Appenzell. Die Verhaftung des
eines Verbrechens Verdächtigen verfügt der Landammann, in dessen Abwesenheit
der Statthalter. Die Untersuchung wird vom Wochenrath geführt, der sich in
wichtigen Fällen durch einen "Zuzug" zum Blutrath constituirt. Der An¬
geschuldigte ist in dieser Untersuchung ein Object, welches bearbeitet wird --
auch mit dem "Bocksfutter" des Ochsenziemers. Hiebe wirken auf das Geständ¬
nis; hin, Hiebe strafen etwaige Lügen, Contumazialprügel und Aehnliches figu-
riren in der Gerichtsordnung.

Nach Beendigung der mit solchen Kraftmitteln geführten Untersuchung
kommt der Inculpat vor den Großen Rath, der als Criminalgericht über Leben


»echt, und bis in die neueste Zeit diente den Landleuten Appenzells. die nach
dem alten deutschen Satze „Selbst ist der Mann" keine Neigung hatten, die
Gerichte mit Injurienklagen zu incommvdiren, eine eigenthümliche Art des Zwei¬
kampfes als Mittel Genugthuung zu erlangen. Der Beleidigte forderte den
Beleidiger zum Faustkampf heraus, der nach unserer Quelle folgendermaßen ge¬
regelt war:

,,t) Ein solcher Kampf soll immer unter freiem Himmel abgemacht werden,
nickt in einem Hause, besonders nicht in einem Wirthshause. 2) Es sollen
mehre Zeugen zugegen sein. 3) Es muß eine förmliche Herausforderung statt¬
gefunden, und es müssen beide in den Kampf gewilligt haben. 4) Die Kämpfer
sollen keine Schlagringe und andere Fingerringe tragen, einander nicht boshafter
Weise auf den Bauch schlagen oder stoßen, noch an andere empfindliche Theile ge¬
fährliche Griffe thun; wer dawider handelt, soll als schlechter Kerl angesehen wer¬
den." Ist einer von den Kämpfenden vollständig zu Boden geschlagen, so ist
der Streit entschieden. Kämpfer und Zeugen gehen dann in ein Wirthshaus,
um „den Frieden zu trinken". Kann ein Landmann die Herausforderung wegen
zu großer Überlegenheit des Gegners nicht annehmen, so mag er diesem durch
den Landweibel Frieden anbieten lassen, der bei Strafe an Leib und Ehre
gehalten werden muß.

Schlägereien außerhalb dieses Faustrechts sind als Frevel bei Geldbuße
untersagt. Trifft ein Appenzeller Leute bei einer ungesetzlichen Schlägerei, so
hat er die Pflicht „Frieden zu gebieten". Die Streitenden müssen seiner Auf¬
forderung, wenn sie nicht gestraft werden wollen, gehorchen. Selbst Weiber
können Frieden gebieten. Hand und Mund derer, denen Frieden geboten ist,
sind gebannt, so daß jeder weitere Angriff auf den Andern als Bruch des
höhern Friedens, den man als Verstärkung des allgemeinen Landfriedens nehmen
kann, schwere Folgen hat'. Ein anderes Stück des alten Friedensrechts hat sich
darin erhalten, daß Frevel und Schlägerei an Kirchweihen. Jahrmärkten und
Landsgemeinden sowie zu Neujahr und Aschermittwoch mit der großen Buße
belegt werden; doch muß diese zuvor vom Landweibel ausgerufen worden sein.

Interessant ist das Criminalvcrfahren in Appenzell. Die Verhaftung des
eines Verbrechens Verdächtigen verfügt der Landammann, in dessen Abwesenheit
der Statthalter. Die Untersuchung wird vom Wochenrath geführt, der sich in
wichtigen Fällen durch einen „Zuzug" zum Blutrath constituirt. Der An¬
geschuldigte ist in dieser Untersuchung ein Object, welches bearbeitet wird —
auch mit dem „Bocksfutter" des Ochsenziemers. Hiebe wirken auf das Geständ¬
nis; hin, Hiebe strafen etwaige Lügen, Contumazialprügel und Aehnliches figu-
riren in der Gerichtsordnung.

Nach Beendigung der mit solchen Kraftmitteln geführten Untersuchung
kommt der Inculpat vor den Großen Rath, der als Criminalgericht über Leben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/501>, abgerufen am 06.02.2025.