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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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eine Holzbank und darüber das Halseisen. Der Rathssaal ist ein mäßig großes
Zimmer mit gebrannten Wänden, an denen Gemälde die Heldenschlachten des
Appenzeller Volks darstellen. Einen unbehaglichen Eindruck macht die hier auf¬
gestellte Prügelbank, der man, obwohl sie in der hiesigen Rechtspflege eine sehr
wichtige Rolle spielt, recht wohl einen bescheidenem Platz hätte anweisen können.
Sie heißt "das Bocksfutter" und bildet nicht nur ein sehr wesentliches Glied im
Strafcnsystem Appenzclls, sondern wird von der Weisheit der Herren Richter auch
fleißig als "Wahrheitscrsorschungsmittel" oder "uneigentliche Folter" gebraucht.

Beiden Zwecken dienen auch die höchst primitiven Gefängnisse, die mit
Pentonville verglichen die unterste Stufe der Entwicklung des Gcfängnißwesens
neben der höchsten vergegenwärtigen. Aus dem Boden des Rathhauses, unmittel¬
bar unter dem Dache stehen, den Käfigen in Menagerien vergleichbar, aus
Bohlen gezimmerte Kasten, die aber nicht wie jene Käsige eine Lichtseite, son¬
dern nur ein kleines Loch zum Hineinreichen der Speisen haben. Von Be¬
wegung ist in diesen Kasten, in denen ein langgewachsener Mensch nicht einmal
aufrecht stehen kann, nicht die Rede, und wer in ihnen Ruhe sucht, dem bleibt
nur die Wahl, sich auf der Streu am Boden zusammenzukauern oder sich auf
das darin angebrachte schmale Bret zu setzen.

Unser Berichterstatter äußerte gegen das Mädchen, das ihn herumführte,
daß die Inquisiten in diesen Kasten sich wohl leicht zum Geständnis; bequemten.
Ja, erwiderte sie, namentlich im Winter. An eine Erwärmung des Boden¬
raums ist nämlich nicht zu denken.

Außer den geschilderten kleinen Käsigen befindet sich auf demselben Dach¬
boden ein größerer mit einem Bett, den man fast ein Zimmerchen nennen kann,
und der für Honoratioren und Eheleute bestimmt ist. Zu bemerken ist, daß
alle diese Gefängnisse auch auf dem Gebiet des Civilrechts ihre Leistungsfähig¬
keit bewähren. "Wenn eine Appcnzeilerin jemand als Vater ihres unehelichen
Kindes angibt, dieser aber die Vaterschaft ablelmt, so werden falls ihre Aus¬
sage Grund zu haben scheint, beide eingesperrt, sie in dem Anstandsgefängniß,
er in einem der kleineren Kasten. In kurzen Fristen wird ihm die Paternitäts-
fragc wiederholt vorgelegt; er fügt sich ins Unvermeidliche, unterschreibt das
betreffende Papier und ist wieder ein freier Appenzeller. Auf diese Weise er¬
langen die Gemeinden den Vortheil, nicht mit der Ernährung unehelicher Kinder
behelligt zu werden."

Man sieht aus dem "Bocksfutter" und den Bohlenkäfigen des Appenzeller
Rathhauses, daß die Väter dieses Volkes das ganze Gewicht der Vorschrift,
mit den kleinsten Mitteln das Mögliche zu erreichen, begriffen haben, und der
Jurist hat in ihnen die unmittelbare Anschauung eines Stücks mittelalterlicher
Rechtsgeschichte vor sich.

Nur langsam wich hier die germanische Blutrache dem öffentlichen Straf-


eine Holzbank und darüber das Halseisen. Der Rathssaal ist ein mäßig großes
Zimmer mit gebrannten Wänden, an denen Gemälde die Heldenschlachten des
Appenzeller Volks darstellen. Einen unbehaglichen Eindruck macht die hier auf¬
gestellte Prügelbank, der man, obwohl sie in der hiesigen Rechtspflege eine sehr
wichtige Rolle spielt, recht wohl einen bescheidenem Platz hätte anweisen können.
Sie heißt „das Bocksfutter" und bildet nicht nur ein sehr wesentliches Glied im
Strafcnsystem Appenzclls, sondern wird von der Weisheit der Herren Richter auch
fleißig als „Wahrheitscrsorschungsmittel" oder „uneigentliche Folter" gebraucht.

Beiden Zwecken dienen auch die höchst primitiven Gefängnisse, die mit
Pentonville verglichen die unterste Stufe der Entwicklung des Gcfängnißwesens
neben der höchsten vergegenwärtigen. Aus dem Boden des Rathhauses, unmittel¬
bar unter dem Dache stehen, den Käfigen in Menagerien vergleichbar, aus
Bohlen gezimmerte Kasten, die aber nicht wie jene Käsige eine Lichtseite, son¬
dern nur ein kleines Loch zum Hineinreichen der Speisen haben. Von Be¬
wegung ist in diesen Kasten, in denen ein langgewachsener Mensch nicht einmal
aufrecht stehen kann, nicht die Rede, und wer in ihnen Ruhe sucht, dem bleibt
nur die Wahl, sich auf der Streu am Boden zusammenzukauern oder sich auf
das darin angebrachte schmale Bret zu setzen.

Unser Berichterstatter äußerte gegen das Mädchen, das ihn herumführte,
daß die Inquisiten in diesen Kasten sich wohl leicht zum Geständnis; bequemten.
Ja, erwiderte sie, namentlich im Winter. An eine Erwärmung des Boden¬
raums ist nämlich nicht zu denken.

Außer den geschilderten kleinen Käsigen befindet sich auf demselben Dach¬
boden ein größerer mit einem Bett, den man fast ein Zimmerchen nennen kann,
und der für Honoratioren und Eheleute bestimmt ist. Zu bemerken ist, daß
alle diese Gefängnisse auch auf dem Gebiet des Civilrechts ihre Leistungsfähig¬
keit bewähren. „Wenn eine Appcnzeilerin jemand als Vater ihres unehelichen
Kindes angibt, dieser aber die Vaterschaft ablelmt, so werden falls ihre Aus¬
sage Grund zu haben scheint, beide eingesperrt, sie in dem Anstandsgefängniß,
er in einem der kleineren Kasten. In kurzen Fristen wird ihm die Paternitäts-
fragc wiederholt vorgelegt; er fügt sich ins Unvermeidliche, unterschreibt das
betreffende Papier und ist wieder ein freier Appenzeller. Auf diese Weise er¬
langen die Gemeinden den Vortheil, nicht mit der Ernährung unehelicher Kinder
behelligt zu werden."

Man sieht aus dem „Bocksfutter" und den Bohlenkäfigen des Appenzeller
Rathhauses, daß die Väter dieses Volkes das ganze Gewicht der Vorschrift,
mit den kleinsten Mitteln das Mögliche zu erreichen, begriffen haben, und der
Jurist hat in ihnen die unmittelbare Anschauung eines Stücks mittelalterlicher
Rechtsgeschichte vor sich.

Nur langsam wich hier die germanische Blutrache dem öffentlichen Straf-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/500>, abgerufen am 05.02.2025.