Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Ich hatte leicht entgegnen. "Wer ist's denn aber, der die Türken hält?" sagte
ich. "Könnten die, alleinstehend, sich auch nur ein Jahr gegen einen russischen
Angriff vertheidigen? Und warum wollen die Mächte, welche jetzt die Herrschaft
der Moslems in Europa unterstützen, nicht lieber ihren christlichen Glaubens¬
brüdern Beistand gewähren? Zunächst gegen die Türken, dann, wenn dies noth
thun sollte, gegen die russische Aggression? Warum will man uns nicht die Frei¬
heit gönnen, die wir doch im Fall eines .Kriegs nicbt einmal so viel Unter¬
stützung bedürfen würden'als die Türken im letzten wie in jedem etwa folgen¬
den Kriege mit dem Czaren? '

Nach dem neuen Organisationsplan soll die disponible Streitmacht der
Türkei allerdings 340,000 Mann zählen. Aber das ist Papier, Einbildung,
Redensart, die wie die Dinge sind und bleiben werden, niemals Wahrheit wer¬
den Wird. In diesem Augenblicke hat die reguläre Armee i.Nisan) nicht mehr
als 100,000, die 'Landwehr (Nedif) bestenfalls 60.000 Mann. Wird die Ar¬
mee, was ich als selbstverständlich betrachte, trotz des letzten Hat nach dem
Gesetz des Koran auch künftig nur aus Moslems rekrutirt, so bieten sich hierzu
in der europäischen Türkei unter 15 Millionen Einwohnern nur 3 oder 4 Mil-
lionen, in der asiatischen unter ungefähr 14 Millionen Einwohnern etwa 10
bis 11 Millionen Muselmänner, und so bleiben zur Rekrutirung der stehenden
Armee kaum mehr als 15 Millionen Köpfe. Dieser Äushebungssatz von circa
1°/" Procent der Bevölkerung ist in einem wohlgeordneten Staat ohne Zweifel
statthaft, scheitert aber in der Türkei an der Unordnung der Verhältnisse, der
Bestechlichkeit der Beamten, den kläglichen Finanzen und vor allem an der
Abneigung der Türken und Araber vor geregeltem Waffendienst. Selbst im
letzten großen Knege. der doch als Glaubenskrieg den Fanatismus der Moham¬
medaner wachrief, vermochte die Türkei in Europa nicht mehr als 13,000, in
Asien kaum 40,000 Mann ins Feld zu stellen. Nehmen wir aber auch an,
sie könnte im Fall eines Kriegs mit Nußland es durch ungewöhnliche An¬
strengung auf 200.000 Mann im Ganzen bringen, so würden 100.000 kaum
genügen. Bulgarien, Bosnien und die Herzegowina besetzt zu halten und die
Grenzen Griechenlands, Serbiens und Montenegro's zu beobachten. Es blieben
also nur 100,000 brauchbare Soldaten*), die dem von Norden in die euro¬
päische, von Osten in die asiatische Türkei eindringenden Feinde entgegengeschickt
werden könnten, und dazu käme, daß der Krieg auf einem Boden zu führen
wäre, dessen Einwohner ihrer großen Mehrzahl nach eine Niederlage der Pforte
mit Jubel begrüßen und -- wie die Bevölkerung der Lombardei im letzten
östreichisch-italienischen Kriege -- durch allerlei Hülfsleistung für den Feind



") Von den Bcischibosnks spricht unser Berichterstatter mit Recht nicht, da diese Irregulä¬
ren mehr ein Hinderniß für einen Feldherrn eilf eine Unterstützung sind.

Ich hatte leicht entgegnen. „Wer ist's denn aber, der die Türken hält?" sagte
ich. „Könnten die, alleinstehend, sich auch nur ein Jahr gegen einen russischen
Angriff vertheidigen? Und warum wollen die Mächte, welche jetzt die Herrschaft
der Moslems in Europa unterstützen, nicht lieber ihren christlichen Glaubens¬
brüdern Beistand gewähren? Zunächst gegen die Türken, dann, wenn dies noth
thun sollte, gegen die russische Aggression? Warum will man uns nicht die Frei¬
heit gönnen, die wir doch im Fall eines .Kriegs nicbt einmal so viel Unter¬
stützung bedürfen würden'als die Türken im letzten wie in jedem etwa folgen¬
den Kriege mit dem Czaren? '

Nach dem neuen Organisationsplan soll die disponible Streitmacht der
Türkei allerdings 340,000 Mann zählen. Aber das ist Papier, Einbildung,
Redensart, die wie die Dinge sind und bleiben werden, niemals Wahrheit wer¬
den Wird. In diesem Augenblicke hat die reguläre Armee i.Nisan) nicht mehr
als 100,000, die 'Landwehr (Nedif) bestenfalls 60.000 Mann. Wird die Ar¬
mee, was ich als selbstverständlich betrachte, trotz des letzten Hat nach dem
Gesetz des Koran auch künftig nur aus Moslems rekrutirt, so bieten sich hierzu
in der europäischen Türkei unter 15 Millionen Einwohnern nur 3 oder 4 Mil-
lionen, in der asiatischen unter ungefähr 14 Millionen Einwohnern etwa 10
bis 11 Millionen Muselmänner, und so bleiben zur Rekrutirung der stehenden
Armee kaum mehr als 15 Millionen Köpfe. Dieser Äushebungssatz von circa
1°/» Procent der Bevölkerung ist in einem wohlgeordneten Staat ohne Zweifel
statthaft, scheitert aber in der Türkei an der Unordnung der Verhältnisse, der
Bestechlichkeit der Beamten, den kläglichen Finanzen und vor allem an der
Abneigung der Türken und Araber vor geregeltem Waffendienst. Selbst im
letzten großen Knege. der doch als Glaubenskrieg den Fanatismus der Moham¬
medaner wachrief, vermochte die Türkei in Europa nicht mehr als 13,000, in
Asien kaum 40,000 Mann ins Feld zu stellen. Nehmen wir aber auch an,
sie könnte im Fall eines Kriegs mit Nußland es durch ungewöhnliche An¬
strengung auf 200.000 Mann im Ganzen bringen, so würden 100.000 kaum
genügen. Bulgarien, Bosnien und die Herzegowina besetzt zu halten und die
Grenzen Griechenlands, Serbiens und Montenegro's zu beobachten. Es blieben
also nur 100,000 brauchbare Soldaten*), die dem von Norden in die euro¬
päische, von Osten in die asiatische Türkei eindringenden Feinde entgegengeschickt
werden könnten, und dazu käme, daß der Krieg auf einem Boden zu führen
wäre, dessen Einwohner ihrer großen Mehrzahl nach eine Niederlage der Pforte
mit Jubel begrüßen und — wie die Bevölkerung der Lombardei im letzten
östreichisch-italienischen Kriege — durch allerlei Hülfsleistung für den Feind



") Von den Bcischibosnks spricht unser Berichterstatter mit Recht nicht, da diese Irregulä¬
ren mehr ein Hinderniß für einen Feldherrn eilf eine Unterstützung sind.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0477" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/114791"/>
          <p xml:id="ID_1871"> Ich hatte leicht entgegnen. &#x201E;Wer ist's denn aber, der die Türken hält?" sagte<lb/>
ich. &#x201E;Könnten die, alleinstehend, sich auch nur ein Jahr gegen einen russischen<lb/>
Angriff vertheidigen? Und warum wollen die Mächte, welche jetzt die Herrschaft<lb/>
der Moslems in Europa unterstützen, nicht lieber ihren christlichen Glaubens¬<lb/>
brüdern Beistand gewähren? Zunächst gegen die Türken, dann, wenn dies noth<lb/>
thun sollte, gegen die russische Aggression? Warum will man uns nicht die Frei¬<lb/>
heit gönnen, die wir doch im Fall eines .Kriegs nicbt einmal so viel Unter¬<lb/>
stützung bedürfen würden'als die Türken im letzten wie in jedem etwa folgen¬<lb/>
den Kriege mit dem Czaren? '</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1872" next="#ID_1873"> Nach dem neuen Organisationsplan soll die disponible Streitmacht der<lb/>
Türkei allerdings 340,000 Mann zählen. Aber das ist Papier, Einbildung,<lb/>
Redensart, die wie die Dinge sind und bleiben werden, niemals Wahrheit wer¬<lb/>
den Wird. In diesem Augenblicke hat die reguläre Armee i.Nisan) nicht mehr<lb/>
als 100,000, die 'Landwehr (Nedif) bestenfalls 60.000 Mann. Wird die Ar¬<lb/>
mee, was ich als selbstverständlich betrachte, trotz des letzten Hat nach dem<lb/>
Gesetz des Koran auch künftig nur aus Moslems rekrutirt, so bieten sich hierzu<lb/>
in der europäischen Türkei unter 15 Millionen Einwohnern nur 3 oder 4 Mil-<lb/>
lionen, in der asiatischen unter ungefähr 14 Millionen Einwohnern etwa 10<lb/>
bis 11 Millionen Muselmänner, und so bleiben zur Rekrutirung der stehenden<lb/>
Armee kaum mehr als 15 Millionen Köpfe. Dieser Äushebungssatz von circa<lb/>
1°/» Procent der Bevölkerung ist in einem wohlgeordneten Staat ohne Zweifel<lb/>
statthaft, scheitert aber in der Türkei an der Unordnung der Verhältnisse, der<lb/>
Bestechlichkeit der Beamten, den kläglichen Finanzen und vor allem an der<lb/>
Abneigung der Türken und Araber vor geregeltem Waffendienst. Selbst im<lb/>
letzten großen Knege. der doch als Glaubenskrieg den Fanatismus der Moham¬<lb/>
medaner wachrief, vermochte die Türkei in Europa nicht mehr als 13,000, in<lb/>
Asien kaum 40,000 Mann ins Feld zu stellen. Nehmen wir aber auch an,<lb/>
sie könnte im Fall eines Kriegs mit Nußland es durch ungewöhnliche An¬<lb/>
strengung auf 200.000 Mann im Ganzen bringen, so würden 100.000 kaum<lb/>
genügen. Bulgarien, Bosnien und die Herzegowina besetzt zu halten und die<lb/>
Grenzen Griechenlands, Serbiens und Montenegro's zu beobachten. Es blieben<lb/>
also nur 100,000 brauchbare Soldaten*), die dem von Norden in die euro¬<lb/>
päische, von Osten in die asiatische Türkei eindringenden Feinde entgegengeschickt<lb/>
werden könnten, und dazu käme, daß der Krieg auf einem Boden zu führen<lb/>
wäre, dessen Einwohner ihrer großen Mehrzahl nach eine Niederlage der Pforte<lb/>
mit Jubel begrüßen und &#x2014; wie die Bevölkerung der Lombardei im letzten<lb/>
östreichisch-italienischen Kriege &#x2014; durch allerlei Hülfsleistung für den Feind</p><lb/>
          <note xml:id="FID_30" place="foot"> ") Von den Bcischibosnks spricht unser Berichterstatter mit Recht nicht, da diese Irregulä¬<lb/>
ren mehr ein Hinderniß für einen Feldherrn eilf eine Unterstützung sind.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0477] Ich hatte leicht entgegnen. „Wer ist's denn aber, der die Türken hält?" sagte ich. „Könnten die, alleinstehend, sich auch nur ein Jahr gegen einen russischen Angriff vertheidigen? Und warum wollen die Mächte, welche jetzt die Herrschaft der Moslems in Europa unterstützen, nicht lieber ihren christlichen Glaubens¬ brüdern Beistand gewähren? Zunächst gegen die Türken, dann, wenn dies noth thun sollte, gegen die russische Aggression? Warum will man uns nicht die Frei¬ heit gönnen, die wir doch im Fall eines .Kriegs nicbt einmal so viel Unter¬ stützung bedürfen würden'als die Türken im letzten wie in jedem etwa folgen¬ den Kriege mit dem Czaren? ' Nach dem neuen Organisationsplan soll die disponible Streitmacht der Türkei allerdings 340,000 Mann zählen. Aber das ist Papier, Einbildung, Redensart, die wie die Dinge sind und bleiben werden, niemals Wahrheit wer¬ den Wird. In diesem Augenblicke hat die reguläre Armee i.Nisan) nicht mehr als 100,000, die 'Landwehr (Nedif) bestenfalls 60.000 Mann. Wird die Ar¬ mee, was ich als selbstverständlich betrachte, trotz des letzten Hat nach dem Gesetz des Koran auch künftig nur aus Moslems rekrutirt, so bieten sich hierzu in der europäischen Türkei unter 15 Millionen Einwohnern nur 3 oder 4 Mil- lionen, in der asiatischen unter ungefähr 14 Millionen Einwohnern etwa 10 bis 11 Millionen Muselmänner, und so bleiben zur Rekrutirung der stehenden Armee kaum mehr als 15 Millionen Köpfe. Dieser Äushebungssatz von circa 1°/» Procent der Bevölkerung ist in einem wohlgeordneten Staat ohne Zweifel statthaft, scheitert aber in der Türkei an der Unordnung der Verhältnisse, der Bestechlichkeit der Beamten, den kläglichen Finanzen und vor allem an der Abneigung der Türken und Araber vor geregeltem Waffendienst. Selbst im letzten großen Knege. der doch als Glaubenskrieg den Fanatismus der Moham¬ medaner wachrief, vermochte die Türkei in Europa nicht mehr als 13,000, in Asien kaum 40,000 Mann ins Feld zu stellen. Nehmen wir aber auch an, sie könnte im Fall eines Kriegs mit Nußland es durch ungewöhnliche An¬ strengung auf 200.000 Mann im Ganzen bringen, so würden 100.000 kaum genügen. Bulgarien, Bosnien und die Herzegowina besetzt zu halten und die Grenzen Griechenlands, Serbiens und Montenegro's zu beobachten. Es blieben also nur 100,000 brauchbare Soldaten*), die dem von Norden in die euro¬ päische, von Osten in die asiatische Türkei eindringenden Feinde entgegengeschickt werden könnten, und dazu käme, daß der Krieg auf einem Boden zu führen wäre, dessen Einwohner ihrer großen Mehrzahl nach eine Niederlage der Pforte mit Jubel begrüßen und — wie die Bevölkerung der Lombardei im letzten östreichisch-italienischen Kriege — durch allerlei Hülfsleistung für den Feind ") Von den Bcischibosnks spricht unser Berichterstatter mit Recht nicht, da diese Irregulä¬ ren mehr ein Hinderniß für einen Feldherrn eilf eine Unterstützung sind.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/477
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/477>, abgerufen am 29.08.2024.