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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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wenigen Jahren schien dem Czaren die Hinterlassenschaft des aus Europa nach
Wen zurückkehrenden Padischah durch die blinden Sympathien der Christen der
Türkei für das glaubensverwandte Rußland wo nicht ganz, doch in ihrem be¬
sten Theile so gut wie gesichert. Jene Christen waren eben weniger Nationen,
als Massen von Angehörigen der orthodoxen Kirche. Jetzt stellen sich die Ver¬
hältnisse, auch abgesehen von der gegenwärtigen Schwäche Rußlands und der
stärker als früher erregten Eifersucht Englands, vielfach anders. Es lag auf
der Hand, daß Rußlands Einfluß auf die Völkerschaften der Balkanhalbinsel
in demselben Maße abnehmen mußte, als sich unter diesen Stämmen Bildung
verbreitete. Mit der Zahl der Heller werdenden Köpfe mußte auch die Zahl
derer wachsen, die ein Gefühl für den Werth ihrer Nationalität und für die
Bedeutung nationaler Reiche hatten. Neben der Empfindung der Zusammen-
gehörigkeit im Glauben gegenüber dem ungläubigen Moslem mußte allmälig
die Erkenntniß des großen Unterschieds zwischen den betreffenden Völkern und
dem russischen aufgehen. In Gemüthern ferner, welche die Freiheit zu ahnen
begannen oder, wie die Serben, schon in lebhaftester Bewegung nach ihr streb¬
ten, mußte die Furcht vor russischen Regierungsmaximen rege werden. Ueberall
endlich, so konnte man erwarten, wich vor der Sonne der Cultur nach und
nach der Nebel, der den Egoismus der auswärtigen Politik des Petersburger
Hofes dem uncivilisirten Urtheil verhüllt hatte.

Dies alles ist in der That bereits in großem Maßstab eingetreten. Wenn die
Berichte, die uns vorliegen, nicht täuschen -- und wir haben Ursache, ihnen zu
glauben -- so wird die Herrschaft der Pforte sehr wahrscheinlich noch in diesem
Jahrzehnt durch das Nationalitätsprincip in Trümmer gesprengt werden, wie Ita¬
lien durch dasselbe zur Einheit werden zu wollen scheint. Der Nutzen von diesem
Ereignisse wird aber nicht der russischen Macht zufallen, sondern es werden sich aus
jenen Trümmern nationale Reiche bilden, die, wenn die Westmächte und Preu-
ßen-ihr Interesse richtig begreifen, ihre Unabhängigkeit gegen die drohende nor¬
dische Großmacht wie gegen den nicht minder gefährlichen östreichischen Nach¬
bar sehr wohl zu bewahren im Stande sein werden.

Die Anfänge zu solcher Umbildung der Karte Osteuropa's, der Preußen
ruhig zusehen, die es sogar fördern darf, sind vorhanden und in stärkstem Trei¬
ben nach weiterem Wachsthum. Wir sehen sie in dem unvollendeten Staats¬
bäu des Königreichs Griechenland, in dem neuen Numänenreich, vor allem
aber in Serbiens Kernvolk vor uns, welches, seit Jahren schon zum Mittel-
und Ausgangspunkt einer Erhebung der Südslaven organisirt, ohne den Da¬
zwischentritt der Diplomatie schon jetzt im hellen Aufstand sein und aller
Wahrscheinlichkeit nach binnen Kurzem mit den Stamm- und glaubensverwandten
Völkern im Westen sowie mit. den Bulgaren ein Reich gründen würde, das ge¬
ring veranschlagt acht Millionen Menschen umfaßte und durch Einheit der


wenigen Jahren schien dem Czaren die Hinterlassenschaft des aus Europa nach
Wen zurückkehrenden Padischah durch die blinden Sympathien der Christen der
Türkei für das glaubensverwandte Rußland wo nicht ganz, doch in ihrem be¬
sten Theile so gut wie gesichert. Jene Christen waren eben weniger Nationen,
als Massen von Angehörigen der orthodoxen Kirche. Jetzt stellen sich die Ver¬
hältnisse, auch abgesehen von der gegenwärtigen Schwäche Rußlands und der
stärker als früher erregten Eifersucht Englands, vielfach anders. Es lag auf
der Hand, daß Rußlands Einfluß auf die Völkerschaften der Balkanhalbinsel
in demselben Maße abnehmen mußte, als sich unter diesen Stämmen Bildung
verbreitete. Mit der Zahl der Heller werdenden Köpfe mußte auch die Zahl
derer wachsen, die ein Gefühl für den Werth ihrer Nationalität und für die
Bedeutung nationaler Reiche hatten. Neben der Empfindung der Zusammen-
gehörigkeit im Glauben gegenüber dem ungläubigen Moslem mußte allmälig
die Erkenntniß des großen Unterschieds zwischen den betreffenden Völkern und
dem russischen aufgehen. In Gemüthern ferner, welche die Freiheit zu ahnen
begannen oder, wie die Serben, schon in lebhaftester Bewegung nach ihr streb¬
ten, mußte die Furcht vor russischen Regierungsmaximen rege werden. Ueberall
endlich, so konnte man erwarten, wich vor der Sonne der Cultur nach und
nach der Nebel, der den Egoismus der auswärtigen Politik des Petersburger
Hofes dem uncivilisirten Urtheil verhüllt hatte.

Dies alles ist in der That bereits in großem Maßstab eingetreten. Wenn die
Berichte, die uns vorliegen, nicht täuschen — und wir haben Ursache, ihnen zu
glauben — so wird die Herrschaft der Pforte sehr wahrscheinlich noch in diesem
Jahrzehnt durch das Nationalitätsprincip in Trümmer gesprengt werden, wie Ita¬
lien durch dasselbe zur Einheit werden zu wollen scheint. Der Nutzen von diesem
Ereignisse wird aber nicht der russischen Macht zufallen, sondern es werden sich aus
jenen Trümmern nationale Reiche bilden, die, wenn die Westmächte und Preu-
ßen-ihr Interesse richtig begreifen, ihre Unabhängigkeit gegen die drohende nor¬
dische Großmacht wie gegen den nicht minder gefährlichen östreichischen Nach¬
bar sehr wohl zu bewahren im Stande sein werden.

Die Anfänge zu solcher Umbildung der Karte Osteuropa's, der Preußen
ruhig zusehen, die es sogar fördern darf, sind vorhanden und in stärkstem Trei¬
ben nach weiterem Wachsthum. Wir sehen sie in dem unvollendeten Staats¬
bäu des Königreichs Griechenland, in dem neuen Numänenreich, vor allem
aber in Serbiens Kernvolk vor uns, welches, seit Jahren schon zum Mittel-
und Ausgangspunkt einer Erhebung der Südslaven organisirt, ohne den Da¬
zwischentritt der Diplomatie schon jetzt im hellen Aufstand sein und aller
Wahrscheinlichkeit nach binnen Kurzem mit den Stamm- und glaubensverwandten
Völkern im Westen sowie mit. den Bulgaren ein Reich gründen würde, das ge¬
ring veranschlagt acht Millionen Menschen umfaßte und durch Einheit der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/470>, abgerufen am 28.08.2024.