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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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ganzen Karolingerreiches, sah sich die Königsherrschaft, auf welcher die Zukunft
der deutschen Nation beruhte, nicht minder dem Schicksale ausgesetzt, aufgelöst
zu werden durch particularistische Bestrebungen, die nur in jener Allgemeinheit
die rechten Gegengewichte gefunden zu haben schienen. Die schwerste Krisis
erfolgte, als Karl der Dicke, zuletzt Beherrscher des ganzen, wiedervereinigten
Karolmgerreiches, im Jahre 887 durch den unehelichen Sohn eines früher ver¬
storbenen Bruders, durch Arnulf, vom Throne gestoßen wurde. Die gewalt-'
same Absetzung des rechtmäßigen Herrschers, die Thronbesteigung eines unehe¬
lich Geborenen konnte an sich nicht ohne Schwächung der Autorität abgehen,
welche die deutschen Stämme zusammenzuhalten hatte. Ueberdies aber verzehrte
Arnulf seine besten Kräfte in ziemlich vergeblichen Anstrengungen, sich als Er¬
ben des gesammten Karolmgerreiches gegen die mächtigen Großen zur Aner¬
kennung zu bringen, die in Italien und im jetzigen Frankreich, an die Spitze
einzelner Stämme tretend, sich als selbständige Könige hatten ausrufen lassen.
Die Kräfte des Stammesparticularismus, welche sich dort gegen Arnulfs, auf
die Idee des Einen Christenreiches gegründete Ansprüche erhoben, brachen nach
Arnulfs Tode, unter seinem minderjährigen Sohne Ludwig, auch gegen den
besonderen Zusammenhalt seines ostfränkischen Königthums ganz offen los. Als
vollends mit Ludwig dein Kinde (911) der letzte von Ludwig des Deutschen
männlichen Nachkommen jgestorben war, schien alles gelöst. Sachsen, Bayern
und Alemannen hatten ihre eigenen Häupter, und der Versuch des fränkischen
Grafen Konrad, sich als Nachfolger Ludwigs des Kindes in der Herrschaft
über sie geltend zu machen, erntete überall nur unzuverlässige Erfolge. Die
Rettung wurde nur dadurch möglich, daß diejenigen Elemente, die srüherhur,
in dem ganzen Karolingerreiche, am entschiedensten das Allgemeine und Ge¬
meinsame in diesem Reiche repräsentirt hatten -- Kirche und Geistlichkeit --
hier dem Einen der zu Berdun gebildeten Theilkönigthümer gegen den Stammes¬
particularismus zu Hülfe kamen. Zur Ergänzung war aber nothwendig, daß,
nach Konrads Tode, die östlichen Franken sich entschlossen, zur Aufrechterhaltung
des Reiches den mächtigsten eben jener, durch den Stammesparticularismus
emporgehobenen Großen, den Sachsenherzog Heinrich, an die Spitze des Reichs
zu stellen und so auf ihre Seite zu ziehen. Indem sich von der einen Seite
Neigungen und Bestrebungen, welche aus das allgemeine Ehristenreich zurück¬
wiesen, von der andern die Svndergelüste der einzelnen Stämme geltend mach¬
ten, wurde inmitten dieser Tendenzen das ostsränkische Reich in seiner ab¬
geschlossenen Existenz aufrecht erhalten und in den Stand gesetzt, sich mehr
und mehr mit einem national-deutschen Inhalt zu erfüllen.

Denn es gelang dem Sachsenherzog Heinrich in der That, die deutschen
Stämme, wenn auch nur in sehr losen Formen, um sich zu einigen, und der
Beweis war geführt, daß diese Stämme jetzt noch ein anderes Band unter sich-


ganzen Karolingerreiches, sah sich die Königsherrschaft, auf welcher die Zukunft
der deutschen Nation beruhte, nicht minder dem Schicksale ausgesetzt, aufgelöst
zu werden durch particularistische Bestrebungen, die nur in jener Allgemeinheit
die rechten Gegengewichte gefunden zu haben schienen. Die schwerste Krisis
erfolgte, als Karl der Dicke, zuletzt Beherrscher des ganzen, wiedervereinigten
Karolmgerreiches, im Jahre 887 durch den unehelichen Sohn eines früher ver¬
storbenen Bruders, durch Arnulf, vom Throne gestoßen wurde. Die gewalt-'
same Absetzung des rechtmäßigen Herrschers, die Thronbesteigung eines unehe¬
lich Geborenen konnte an sich nicht ohne Schwächung der Autorität abgehen,
welche die deutschen Stämme zusammenzuhalten hatte. Ueberdies aber verzehrte
Arnulf seine besten Kräfte in ziemlich vergeblichen Anstrengungen, sich als Er¬
ben des gesammten Karolmgerreiches gegen die mächtigen Großen zur Aner¬
kennung zu bringen, die in Italien und im jetzigen Frankreich, an die Spitze
einzelner Stämme tretend, sich als selbständige Könige hatten ausrufen lassen.
Die Kräfte des Stammesparticularismus, welche sich dort gegen Arnulfs, auf
die Idee des Einen Christenreiches gegründete Ansprüche erhoben, brachen nach
Arnulfs Tode, unter seinem minderjährigen Sohne Ludwig, auch gegen den
besonderen Zusammenhalt seines ostfränkischen Königthums ganz offen los. Als
vollends mit Ludwig dein Kinde (911) der letzte von Ludwig des Deutschen
männlichen Nachkommen jgestorben war, schien alles gelöst. Sachsen, Bayern
und Alemannen hatten ihre eigenen Häupter, und der Versuch des fränkischen
Grafen Konrad, sich als Nachfolger Ludwigs des Kindes in der Herrschaft
über sie geltend zu machen, erntete überall nur unzuverlässige Erfolge. Die
Rettung wurde nur dadurch möglich, daß diejenigen Elemente, die srüherhur,
in dem ganzen Karolingerreiche, am entschiedensten das Allgemeine und Ge¬
meinsame in diesem Reiche repräsentirt hatten — Kirche und Geistlichkeit —
hier dem Einen der zu Berdun gebildeten Theilkönigthümer gegen den Stammes¬
particularismus zu Hülfe kamen. Zur Ergänzung war aber nothwendig, daß,
nach Konrads Tode, die östlichen Franken sich entschlossen, zur Aufrechterhaltung
des Reiches den mächtigsten eben jener, durch den Stammesparticularismus
emporgehobenen Großen, den Sachsenherzog Heinrich, an die Spitze des Reichs
zu stellen und so auf ihre Seite zu ziehen. Indem sich von der einen Seite
Neigungen und Bestrebungen, welche aus das allgemeine Ehristenreich zurück¬
wiesen, von der andern die Svndergelüste der einzelnen Stämme geltend mach¬
ten, wurde inmitten dieser Tendenzen das ostsränkische Reich in seiner ab¬
geschlossenen Existenz aufrecht erhalten und in den Stand gesetzt, sich mehr
und mehr mit einem national-deutschen Inhalt zu erfüllen.

Denn es gelang dem Sachsenherzog Heinrich in der That, die deutschen
Stämme, wenn auch nur in sehr losen Formen, um sich zu einigen, und der
Beweis war geführt, daß diese Stämme jetzt noch ein anderes Band unter sich-


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[0350] ganzen Karolingerreiches, sah sich die Königsherrschaft, auf welcher die Zukunft der deutschen Nation beruhte, nicht minder dem Schicksale ausgesetzt, aufgelöst zu werden durch particularistische Bestrebungen, die nur in jener Allgemeinheit die rechten Gegengewichte gefunden zu haben schienen. Die schwerste Krisis erfolgte, als Karl der Dicke, zuletzt Beherrscher des ganzen, wiedervereinigten Karolmgerreiches, im Jahre 887 durch den unehelichen Sohn eines früher ver¬ storbenen Bruders, durch Arnulf, vom Throne gestoßen wurde. Die gewalt-' same Absetzung des rechtmäßigen Herrschers, die Thronbesteigung eines unehe¬ lich Geborenen konnte an sich nicht ohne Schwächung der Autorität abgehen, welche die deutschen Stämme zusammenzuhalten hatte. Ueberdies aber verzehrte Arnulf seine besten Kräfte in ziemlich vergeblichen Anstrengungen, sich als Er¬ ben des gesammten Karolmgerreiches gegen die mächtigen Großen zur Aner¬ kennung zu bringen, die in Italien und im jetzigen Frankreich, an die Spitze einzelner Stämme tretend, sich als selbständige Könige hatten ausrufen lassen. Die Kräfte des Stammesparticularismus, welche sich dort gegen Arnulfs, auf die Idee des Einen Christenreiches gegründete Ansprüche erhoben, brachen nach Arnulfs Tode, unter seinem minderjährigen Sohne Ludwig, auch gegen den besonderen Zusammenhalt seines ostfränkischen Königthums ganz offen los. Als vollends mit Ludwig dein Kinde (911) der letzte von Ludwig des Deutschen männlichen Nachkommen jgestorben war, schien alles gelöst. Sachsen, Bayern und Alemannen hatten ihre eigenen Häupter, und der Versuch des fränkischen Grafen Konrad, sich als Nachfolger Ludwigs des Kindes in der Herrschaft über sie geltend zu machen, erntete überall nur unzuverlässige Erfolge. Die Rettung wurde nur dadurch möglich, daß diejenigen Elemente, die srüherhur, in dem ganzen Karolingerreiche, am entschiedensten das Allgemeine und Ge¬ meinsame in diesem Reiche repräsentirt hatten — Kirche und Geistlichkeit — hier dem Einen der zu Berdun gebildeten Theilkönigthümer gegen den Stammes¬ particularismus zu Hülfe kamen. Zur Ergänzung war aber nothwendig, daß, nach Konrads Tode, die östlichen Franken sich entschlossen, zur Aufrechterhaltung des Reiches den mächtigsten eben jener, durch den Stammesparticularismus emporgehobenen Großen, den Sachsenherzog Heinrich, an die Spitze des Reichs zu stellen und so auf ihre Seite zu ziehen. Indem sich von der einen Seite Neigungen und Bestrebungen, welche aus das allgemeine Ehristenreich zurück¬ wiesen, von der andern die Svndergelüste der einzelnen Stämme geltend mach¬ ten, wurde inmitten dieser Tendenzen das ostsränkische Reich in seiner ab¬ geschlossenen Existenz aufrecht erhalten und in den Stand gesetzt, sich mehr und mehr mit einem national-deutschen Inhalt zu erfüllen. Denn es gelang dem Sachsenherzog Heinrich in der That, die deutschen Stämme, wenn auch nur in sehr losen Formen, um sich zu einigen, und der Beweis war geführt, daß diese Stämme jetzt noch ein anderes Band unter sich-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/350>, abgerufen am 25.08.2024.