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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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deutsche Geist noch im spätern Mittelalter, im Besitz einer eigenen Literatur¬
sprache und noch so mancher anderer Vortheile, zu bestehen gehabt, um inmitten
der fremden Stoffe, die auf ihn eindrangen, sein nationales Selbst zu behaup¬
ten und jenen Stoffen seinen eigenen Stempel aufzudrücken; wie viel weniger
wäre in der Karolingerzeit daran zu denken gewesen, daß er zu einem solchen
Selbst erst gelangte und sich desselben bewußt wurde, wenn durchaus kein be¬
sonderer Mittelpunkt für den Osten sich dargeboten, durchaus keine politische
Grenzlinie dem übermächtigen Fremden einen Damm entgegengesetzt hätte!

Freilich, allzuhoch und fest war der Damm, den die Verduner Theilung
zwischen dem Osten und Westen aufrichtete, eben nicht. Statt daß es etwa
dem Könige Ludwig hätte in den Sinn kommen können, eine planmäßige He¬
bung deutschen Wesens für seinen Beruf zu halten, galt es ja vielmehr als
ausdrückliche Pflicht aller karolingischen Theiltönige, den Zusammenbang ihrer
Länder so offen als möglich zu halten, alles Trennende, Scheidende so viel als
möglich zu verwischen. Ein besonderes Glück für das Werden eines deutschen
Volksgefühles war es ohne Zweifel, daß bei der^zweiunddreißigjährigcn Dauer
von Ludwigs selbständiger Regierung die unwillkürlichen Folgen, die der Be¬
sitz eines eigenen Königs haben mußte, sich eine geraume Zeit hindurch un¬
unterbrochen geltend zu machen vermochten. Bedeutenden Vorschub leisteten
ferner die Kämpfe, die nach dem Aussterben von Lothars Hause um dessen
Länder und um die Kaiserkrone zwischen dem. Hause Ludwigs und dem Hause
Karls des Kahlen sich erhoben. Aber hätte die Wiedervereinigung des ganzen
Karolingerreiches, die in den Achtzigerjahrendes S.Jahrhunderts, unter einem
von Ludwigs eigenen Söhnen (Karl dem Dicken), durch das rasche Zusammen¬
sterben der übrigen Karolinger wirklich eintrat, nur einige Dauer gehabt, so
wäre wohl alles unter Ludwig dem Deutschen Gewonnene wieder in Frage ge¬
stellt gewesen.

Gefahren kamen indeß der ganzen Zukunft der deutschen Nationalität auch
von ganz entgegengesetzter Seite. Eines war für diese Zukunft durch Her¬
stellung des großen Karolingerreiches geschehen. Hatte in demselben ein deut¬
sches Nationalgefühl nicht aufkommen können wegen der unterschiedlosen Ver¬
bindung der deutschen und nichtdeutschen Stämme, so war doch die Thatsache,
daß hier zum ersten Male alle deutschen Stämme, herausgerissen aus ihrer
Vereinzelung, sich überhaupt in Einem Gemeinwesen beisammen befunden, ein
Schritt nach vorwärts gewesen. Sowie sich, durch den Verduner Vertrag, die
strenge Einheit des Reiches gelöst, so trat auf deutschem Boden wie überall
eine Reaction der Sondergelüste in den einzelnen Stämmen ein. Daß, nach
Ludwig des Deutschen Tode, eine vorübergehende Theilung seiner Lande
unter seine drei Söhne Platz griff, diente derartigen Gelüsten natürlich zur
Förderung. Immer in Gefahr, wieder aufzugehn in der Allgemeinheit des


deutsche Geist noch im spätern Mittelalter, im Besitz einer eigenen Literatur¬
sprache und noch so mancher anderer Vortheile, zu bestehen gehabt, um inmitten
der fremden Stoffe, die auf ihn eindrangen, sein nationales Selbst zu behaup¬
ten und jenen Stoffen seinen eigenen Stempel aufzudrücken; wie viel weniger
wäre in der Karolingerzeit daran zu denken gewesen, daß er zu einem solchen
Selbst erst gelangte und sich desselben bewußt wurde, wenn durchaus kein be¬
sonderer Mittelpunkt für den Osten sich dargeboten, durchaus keine politische
Grenzlinie dem übermächtigen Fremden einen Damm entgegengesetzt hätte!

Freilich, allzuhoch und fest war der Damm, den die Verduner Theilung
zwischen dem Osten und Westen aufrichtete, eben nicht. Statt daß es etwa
dem Könige Ludwig hätte in den Sinn kommen können, eine planmäßige He¬
bung deutschen Wesens für seinen Beruf zu halten, galt es ja vielmehr als
ausdrückliche Pflicht aller karolingischen Theiltönige, den Zusammenbang ihrer
Länder so offen als möglich zu halten, alles Trennende, Scheidende so viel als
möglich zu verwischen. Ein besonderes Glück für das Werden eines deutschen
Volksgefühles war es ohne Zweifel, daß bei der^zweiunddreißigjährigcn Dauer
von Ludwigs selbständiger Regierung die unwillkürlichen Folgen, die der Be¬
sitz eines eigenen Königs haben mußte, sich eine geraume Zeit hindurch un¬
unterbrochen geltend zu machen vermochten. Bedeutenden Vorschub leisteten
ferner die Kämpfe, die nach dem Aussterben von Lothars Hause um dessen
Länder und um die Kaiserkrone zwischen dem. Hause Ludwigs und dem Hause
Karls des Kahlen sich erhoben. Aber hätte die Wiedervereinigung des ganzen
Karolingerreiches, die in den Achtzigerjahrendes S.Jahrhunderts, unter einem
von Ludwigs eigenen Söhnen (Karl dem Dicken), durch das rasche Zusammen¬
sterben der übrigen Karolinger wirklich eintrat, nur einige Dauer gehabt, so
wäre wohl alles unter Ludwig dem Deutschen Gewonnene wieder in Frage ge¬
stellt gewesen.

Gefahren kamen indeß der ganzen Zukunft der deutschen Nationalität auch
von ganz entgegengesetzter Seite. Eines war für diese Zukunft durch Her¬
stellung des großen Karolingerreiches geschehen. Hatte in demselben ein deut¬
sches Nationalgefühl nicht aufkommen können wegen der unterschiedlosen Ver¬
bindung der deutschen und nichtdeutschen Stämme, so war doch die Thatsache,
daß hier zum ersten Male alle deutschen Stämme, herausgerissen aus ihrer
Vereinzelung, sich überhaupt in Einem Gemeinwesen beisammen befunden, ein
Schritt nach vorwärts gewesen. Sowie sich, durch den Verduner Vertrag, die
strenge Einheit des Reiches gelöst, so trat auf deutschem Boden wie überall
eine Reaction der Sondergelüste in den einzelnen Stämmen ein. Daß, nach
Ludwig des Deutschen Tode, eine vorübergehende Theilung seiner Lande
unter seine drei Söhne Platz griff, diente derartigen Gelüsten natürlich zur
Förderung. Immer in Gefahr, wieder aufzugehn in der Allgemeinheit des


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[0349] deutsche Geist noch im spätern Mittelalter, im Besitz einer eigenen Literatur¬ sprache und noch so mancher anderer Vortheile, zu bestehen gehabt, um inmitten der fremden Stoffe, die auf ihn eindrangen, sein nationales Selbst zu behaup¬ ten und jenen Stoffen seinen eigenen Stempel aufzudrücken; wie viel weniger wäre in der Karolingerzeit daran zu denken gewesen, daß er zu einem solchen Selbst erst gelangte und sich desselben bewußt wurde, wenn durchaus kein be¬ sonderer Mittelpunkt für den Osten sich dargeboten, durchaus keine politische Grenzlinie dem übermächtigen Fremden einen Damm entgegengesetzt hätte! Freilich, allzuhoch und fest war der Damm, den die Verduner Theilung zwischen dem Osten und Westen aufrichtete, eben nicht. Statt daß es etwa dem Könige Ludwig hätte in den Sinn kommen können, eine planmäßige He¬ bung deutschen Wesens für seinen Beruf zu halten, galt es ja vielmehr als ausdrückliche Pflicht aller karolingischen Theiltönige, den Zusammenbang ihrer Länder so offen als möglich zu halten, alles Trennende, Scheidende so viel als möglich zu verwischen. Ein besonderes Glück für das Werden eines deutschen Volksgefühles war es ohne Zweifel, daß bei der^zweiunddreißigjährigcn Dauer von Ludwigs selbständiger Regierung die unwillkürlichen Folgen, die der Be¬ sitz eines eigenen Königs haben mußte, sich eine geraume Zeit hindurch un¬ unterbrochen geltend zu machen vermochten. Bedeutenden Vorschub leisteten ferner die Kämpfe, die nach dem Aussterben von Lothars Hause um dessen Länder und um die Kaiserkrone zwischen dem. Hause Ludwigs und dem Hause Karls des Kahlen sich erhoben. Aber hätte die Wiedervereinigung des ganzen Karolingerreiches, die in den Achtzigerjahrendes S.Jahrhunderts, unter einem von Ludwigs eigenen Söhnen (Karl dem Dicken), durch das rasche Zusammen¬ sterben der übrigen Karolinger wirklich eintrat, nur einige Dauer gehabt, so wäre wohl alles unter Ludwig dem Deutschen Gewonnene wieder in Frage ge¬ stellt gewesen. Gefahren kamen indeß der ganzen Zukunft der deutschen Nationalität auch von ganz entgegengesetzter Seite. Eines war für diese Zukunft durch Her¬ stellung des großen Karolingerreiches geschehen. Hatte in demselben ein deut¬ sches Nationalgefühl nicht aufkommen können wegen der unterschiedlosen Ver¬ bindung der deutschen und nichtdeutschen Stämme, so war doch die Thatsache, daß hier zum ersten Male alle deutschen Stämme, herausgerissen aus ihrer Vereinzelung, sich überhaupt in Einem Gemeinwesen beisammen befunden, ein Schritt nach vorwärts gewesen. Sowie sich, durch den Verduner Vertrag, die strenge Einheit des Reiches gelöst, so trat auf deutschem Boden wie überall eine Reaction der Sondergelüste in den einzelnen Stämmen ein. Daß, nach Ludwig des Deutschen Tode, eine vorübergehende Theilung seiner Lande unter seine drei Söhne Platz griff, diente derartigen Gelüsten natürlich zur Förderung. Immer in Gefahr, wieder aufzugehn in der Allgemeinheit des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/349>, abgerufen am 26.08.2024.