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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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seine Waffen zeigend, breitete sich dies Reich fast über alles Land zwischen
Pyrenäen und Saale aus. Nur zwei Völkerschaften in der altgermanischen Hei¬
math -- Sachsen und Friesen -- nur zwei auf dem ehemals römischen Conti¬
nente -- die Westgothen in Spanien und die Longobarden, mit denen die Byzan¬
tiner bald nach Bezwingung der Osigothen um Italien zu kämpfen hatten --
blieben außerhalb seiner Gewalt und seiner Grenzen.

Arge Keime des Verderbens trug nun freilich auch dies fränkische Reich
in sich. In seinem Westen konnte sich die allmälige Verschmelzung germanischen
und römischen naturelles zu neuen romanischen Volkscharatteren nicht wohl voll¬
ziehen, ohne daß aus dem Zusammenfluß roher Kraft mit üppiger Verfeinerung,
aus dem raschen Preisgeben alter Anschauungen an ein neues, die Masse nur
äußerlich berührendes Kirchenthum, aus der Bekanntschaft unbändiger Machl-
begier mit reichentwickelten Regierungsmitteln und aus dem Gegenstreben eines
ebenso unbändigen Freiheitstrotzes ein sittliches und politisches Chaos entstand,
wie es bekanntlich die Periode der merovingischen Könige in so furchtbarer
Weise bezeichnet. Ganz unbeeinflußt blieb davon allerdings auch der Osten des
Reiches keineswegs. Natürlich aber, daß doch, je nachdem man sich diesem Osten
näherte oder sich von ihm entfernte, die mannigfachsten Verschiedenheiten hervor¬
traten. Gerade der herrschende Stamm der Franken und seine weitgedehnten
Wohnsitze von den Grenzen des Fichtelgcbirgs bis zum thüringer Walde boten
in ihrem eigenen Inneren den Gegensätzen, die sich aus jenen Verschiedenheiten
herausbilden mochten, den größten Spielraum dar. Und indem nun dies zu
Spaltungen unter den Franken selbst, zu grimmigen Kämpfen zwischen den
"neustrischen" Franken an der Seine und den "austrasischen" an Maas und Rhein
führte, erhob sich rings um diesen herrschenden Frankenstamm in den unterworfenen
Völkerschaften, den romanischen wie den rein deutschen, der Unabhängigkeitstrieb.
Bayern und Aquitanier (im Südwesten des heutigen Frankreich), Burgunder
und Thüringer arbeiteten, bewußt oder unwillkürlich, zusammen gegen die zur
Hälfte deutschen, zur Hälfte romanischen Franken. Zu Ende des 7., zu Anfange
des 8. Jahrhunderts krachte das Reich in allen Fugen; zu der nämlichen Zeit,
wo die mohamedanischen Araber von Afrika aus das westgvthische Reich in
Spanien überrannten und über die Pyrenäen drangen mit der Hoffnung, gegen
Asien zurückgewendet alles Land bis Konstantinopel sich zu unterwerfen, während
von Nordosten her auch die heidnischen Sachsen und Friesen in den innern
Wirren des Frankenreiches die Gelegenheiten erspähten, demselben gefährlich zu
werden.

Wie und wodurch nun in diesem furchtbaren Moment, der noch einmal
alles seit der Völkerwanderung Entstandene mit Umsturz bedrohte, die Rettung
gekommen sei, liegt nicht in unserer Absicht ausführlich zu erörtern. Es waren
hauptsächlich die austrasischen Franken und die Häupter der bei ihnen empor-


seine Waffen zeigend, breitete sich dies Reich fast über alles Land zwischen
Pyrenäen und Saale aus. Nur zwei Völkerschaften in der altgermanischen Hei¬
math — Sachsen und Friesen — nur zwei auf dem ehemals römischen Conti¬
nente — die Westgothen in Spanien und die Longobarden, mit denen die Byzan¬
tiner bald nach Bezwingung der Osigothen um Italien zu kämpfen hatten —
blieben außerhalb seiner Gewalt und seiner Grenzen.

Arge Keime des Verderbens trug nun freilich auch dies fränkische Reich
in sich. In seinem Westen konnte sich die allmälige Verschmelzung germanischen
und römischen naturelles zu neuen romanischen Volkscharatteren nicht wohl voll¬
ziehen, ohne daß aus dem Zusammenfluß roher Kraft mit üppiger Verfeinerung,
aus dem raschen Preisgeben alter Anschauungen an ein neues, die Masse nur
äußerlich berührendes Kirchenthum, aus der Bekanntschaft unbändiger Machl-
begier mit reichentwickelten Regierungsmitteln und aus dem Gegenstreben eines
ebenso unbändigen Freiheitstrotzes ein sittliches und politisches Chaos entstand,
wie es bekanntlich die Periode der merovingischen Könige in so furchtbarer
Weise bezeichnet. Ganz unbeeinflußt blieb davon allerdings auch der Osten des
Reiches keineswegs. Natürlich aber, daß doch, je nachdem man sich diesem Osten
näherte oder sich von ihm entfernte, die mannigfachsten Verschiedenheiten hervor¬
traten. Gerade der herrschende Stamm der Franken und seine weitgedehnten
Wohnsitze von den Grenzen des Fichtelgcbirgs bis zum thüringer Walde boten
in ihrem eigenen Inneren den Gegensätzen, die sich aus jenen Verschiedenheiten
herausbilden mochten, den größten Spielraum dar. Und indem nun dies zu
Spaltungen unter den Franken selbst, zu grimmigen Kämpfen zwischen den
„neustrischen" Franken an der Seine und den „austrasischen" an Maas und Rhein
führte, erhob sich rings um diesen herrschenden Frankenstamm in den unterworfenen
Völkerschaften, den romanischen wie den rein deutschen, der Unabhängigkeitstrieb.
Bayern und Aquitanier (im Südwesten des heutigen Frankreich), Burgunder
und Thüringer arbeiteten, bewußt oder unwillkürlich, zusammen gegen die zur
Hälfte deutschen, zur Hälfte romanischen Franken. Zu Ende des 7., zu Anfange
des 8. Jahrhunderts krachte das Reich in allen Fugen; zu der nämlichen Zeit,
wo die mohamedanischen Araber von Afrika aus das westgvthische Reich in
Spanien überrannten und über die Pyrenäen drangen mit der Hoffnung, gegen
Asien zurückgewendet alles Land bis Konstantinopel sich zu unterwerfen, während
von Nordosten her auch die heidnischen Sachsen und Friesen in den innern
Wirren des Frankenreiches die Gelegenheiten erspähten, demselben gefährlich zu
werden.

Wie und wodurch nun in diesem furchtbaren Moment, der noch einmal
alles seit der Völkerwanderung Entstandene mit Umsturz bedrohte, die Rettung
gekommen sei, liegt nicht in unserer Absicht ausführlich zu erörtern. Es waren
hauptsächlich die austrasischen Franken und die Häupter der bei ihnen empor-


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[0335] seine Waffen zeigend, breitete sich dies Reich fast über alles Land zwischen Pyrenäen und Saale aus. Nur zwei Völkerschaften in der altgermanischen Hei¬ math — Sachsen und Friesen — nur zwei auf dem ehemals römischen Conti¬ nente — die Westgothen in Spanien und die Longobarden, mit denen die Byzan¬ tiner bald nach Bezwingung der Osigothen um Italien zu kämpfen hatten — blieben außerhalb seiner Gewalt und seiner Grenzen. Arge Keime des Verderbens trug nun freilich auch dies fränkische Reich in sich. In seinem Westen konnte sich die allmälige Verschmelzung germanischen und römischen naturelles zu neuen romanischen Volkscharatteren nicht wohl voll¬ ziehen, ohne daß aus dem Zusammenfluß roher Kraft mit üppiger Verfeinerung, aus dem raschen Preisgeben alter Anschauungen an ein neues, die Masse nur äußerlich berührendes Kirchenthum, aus der Bekanntschaft unbändiger Machl- begier mit reichentwickelten Regierungsmitteln und aus dem Gegenstreben eines ebenso unbändigen Freiheitstrotzes ein sittliches und politisches Chaos entstand, wie es bekanntlich die Periode der merovingischen Könige in so furchtbarer Weise bezeichnet. Ganz unbeeinflußt blieb davon allerdings auch der Osten des Reiches keineswegs. Natürlich aber, daß doch, je nachdem man sich diesem Osten näherte oder sich von ihm entfernte, die mannigfachsten Verschiedenheiten hervor¬ traten. Gerade der herrschende Stamm der Franken und seine weitgedehnten Wohnsitze von den Grenzen des Fichtelgcbirgs bis zum thüringer Walde boten in ihrem eigenen Inneren den Gegensätzen, die sich aus jenen Verschiedenheiten herausbilden mochten, den größten Spielraum dar. Und indem nun dies zu Spaltungen unter den Franken selbst, zu grimmigen Kämpfen zwischen den „neustrischen" Franken an der Seine und den „austrasischen" an Maas und Rhein führte, erhob sich rings um diesen herrschenden Frankenstamm in den unterworfenen Völkerschaften, den romanischen wie den rein deutschen, der Unabhängigkeitstrieb. Bayern und Aquitanier (im Südwesten des heutigen Frankreich), Burgunder und Thüringer arbeiteten, bewußt oder unwillkürlich, zusammen gegen die zur Hälfte deutschen, zur Hälfte romanischen Franken. Zu Ende des 7., zu Anfange des 8. Jahrhunderts krachte das Reich in allen Fugen; zu der nämlichen Zeit, wo die mohamedanischen Araber von Afrika aus das westgvthische Reich in Spanien überrannten und über die Pyrenäen drangen mit der Hoffnung, gegen Asien zurückgewendet alles Land bis Konstantinopel sich zu unterwerfen, während von Nordosten her auch die heidnischen Sachsen und Friesen in den innern Wirren des Frankenreiches die Gelegenheiten erspähten, demselben gefährlich zu werden. Wie und wodurch nun in diesem furchtbaren Moment, der noch einmal alles seit der Völkerwanderung Entstandene mit Umsturz bedrohte, die Rettung gekommen sei, liegt nicht in unserer Absicht ausführlich zu erörtern. Es waren hauptsächlich die austrasischen Franken und die Häupter der bei ihnen empor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/335>, abgerufen am 11.02.2025.