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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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anschlagen der Stadt eine königliche Bekanntmachung mit den Grundzügen der
neuen Verfassung.

Das Geheimniß war so strenge bewahrt worden, daß noch am Morgen
des 8. die fremden Gesandten nicht wußten, ob es sich blos um eine Versamm¬
lung mit berathender Stimme oder um eine wirkliche Konstitution handle.
Um ihre Zweifel zu lösen, begaben sie sich um Mittag zum Minister des Aus¬
wärtigen. Er war ausgefahren. Um 3 Uhr kamen sie wieder, und der Mini¬
ster reichte ihnen lächelnd die Abzüge des Verfassungsbecrets. Die östreichische
Gesandtschaft sandte am 7. und 3. eine Staffete um die andere nach Wien ab,
mit immer inhaltschwereren Depeschen. Wenige Tage darauf folgte Graf Buol
seinen Kourieren nach.

Von diesem Tage beginnt eine neue Periode in der Geschichte Piemonts,
nach der absolutistischen die constitutionelle. Wie die Geburt der Verfassung
eine schwere gewesen, so waren auch die Jahre der Erziehung und des Wachs¬
thums voll schwerer Bedrängnisse. Auf die kurzen Tage unermeßlicher Freude
folgten lange Zeiten einer harten Prüfung. Aber inmitten aller dieser Prü¬
fungen und Stürme erhielt sie sich -- die einzige unter ihren Schwestern --
rein und unverletzt, und wurde stark und weit genug, um, als die Zeit erfüllt
war, auch die übrigen Völker Italiens unter ihrem Schatten zu sammeln.'


L.7


Neue Literatur der deutschen Merthiimswissenschnst.

Frankfurter Bürgerzwiste und Zustände im Mittelalter. Von
Dr. Georg Ludwig Kriege. Frankfurt a. M. 1862.

Auch für die deutsche Lvcalgeschichte, für die Vergangenheit einzelner Städte
und Landschaften steht die Geschichtsschreibung gegenwärtig noch in den An¬
fängen, noch heute gehört eine wissenschaftlich werthvolle Geschichte von Nürn¬
berg, Frankfurt, Hamburg, Breslau, Danzig oder einer andern großen Stadt
zu den größten Seltenheiten. Das scheint unglaublich. Hat nicht fast jedes
Jahrhundert einer größern Stadt mehr als einen fleißigen und gelehrten Bür¬
ger gefunden, der die Merkwürdigkeiten und Schicksale seiner Gemeinde nieder¬
schrieb und dabei die frühern Aufzeichnungen sorglich benutzte? Wenn diese


anschlagen der Stadt eine königliche Bekanntmachung mit den Grundzügen der
neuen Verfassung.

Das Geheimniß war so strenge bewahrt worden, daß noch am Morgen
des 8. die fremden Gesandten nicht wußten, ob es sich blos um eine Versamm¬
lung mit berathender Stimme oder um eine wirkliche Konstitution handle.
Um ihre Zweifel zu lösen, begaben sie sich um Mittag zum Minister des Aus¬
wärtigen. Er war ausgefahren. Um 3 Uhr kamen sie wieder, und der Mini¬
ster reichte ihnen lächelnd die Abzüge des Verfassungsbecrets. Die östreichische
Gesandtschaft sandte am 7. und 3. eine Staffete um die andere nach Wien ab,
mit immer inhaltschwereren Depeschen. Wenige Tage darauf folgte Graf Buol
seinen Kourieren nach.

Von diesem Tage beginnt eine neue Periode in der Geschichte Piemonts,
nach der absolutistischen die constitutionelle. Wie die Geburt der Verfassung
eine schwere gewesen, so waren auch die Jahre der Erziehung und des Wachs¬
thums voll schwerer Bedrängnisse. Auf die kurzen Tage unermeßlicher Freude
folgten lange Zeiten einer harten Prüfung. Aber inmitten aller dieser Prü¬
fungen und Stürme erhielt sie sich — die einzige unter ihren Schwestern —
rein und unverletzt, und wurde stark und weit genug, um, als die Zeit erfüllt
war, auch die übrigen Völker Italiens unter ihrem Schatten zu sammeln.'


L.7


Neue Literatur der deutschen Merthiimswissenschnst.

Frankfurter Bürgerzwiste und Zustände im Mittelalter. Von
Dr. Georg Ludwig Kriege. Frankfurt a. M. 1862.

Auch für die deutsche Lvcalgeschichte, für die Vergangenheit einzelner Städte
und Landschaften steht die Geschichtsschreibung gegenwärtig noch in den An¬
fängen, noch heute gehört eine wissenschaftlich werthvolle Geschichte von Nürn¬
berg, Frankfurt, Hamburg, Breslau, Danzig oder einer andern großen Stadt
zu den größten Seltenheiten. Das scheint unglaublich. Hat nicht fast jedes
Jahrhundert einer größern Stadt mehr als einen fleißigen und gelehrten Bür¬
ger gefunden, der die Merkwürdigkeiten und Schicksale seiner Gemeinde nieder¬
schrieb und dabei die frühern Aufzeichnungen sorglich benutzte? Wenn diese


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[0320] anschlagen der Stadt eine königliche Bekanntmachung mit den Grundzügen der neuen Verfassung. Das Geheimniß war so strenge bewahrt worden, daß noch am Morgen des 8. die fremden Gesandten nicht wußten, ob es sich blos um eine Versamm¬ lung mit berathender Stimme oder um eine wirkliche Konstitution handle. Um ihre Zweifel zu lösen, begaben sie sich um Mittag zum Minister des Aus¬ wärtigen. Er war ausgefahren. Um 3 Uhr kamen sie wieder, und der Mini¬ ster reichte ihnen lächelnd die Abzüge des Verfassungsbecrets. Die östreichische Gesandtschaft sandte am 7. und 3. eine Staffete um die andere nach Wien ab, mit immer inhaltschwereren Depeschen. Wenige Tage darauf folgte Graf Buol seinen Kourieren nach. Von diesem Tage beginnt eine neue Periode in der Geschichte Piemonts, nach der absolutistischen die constitutionelle. Wie die Geburt der Verfassung eine schwere gewesen, so waren auch die Jahre der Erziehung und des Wachs¬ thums voll schwerer Bedrängnisse. Auf die kurzen Tage unermeßlicher Freude folgten lange Zeiten einer harten Prüfung. Aber inmitten aller dieser Prü¬ fungen und Stürme erhielt sie sich — die einzige unter ihren Schwestern — rein und unverletzt, und wurde stark und weit genug, um, als die Zeit erfüllt war, auch die übrigen Völker Italiens unter ihrem Schatten zu sammeln.' L.7 Neue Literatur der deutschen Merthiimswissenschnst. Frankfurter Bürgerzwiste und Zustände im Mittelalter. Von Dr. Georg Ludwig Kriege. Frankfurt a. M. 1862. Auch für die deutsche Lvcalgeschichte, für die Vergangenheit einzelner Städte und Landschaften steht die Geschichtsschreibung gegenwärtig noch in den An¬ fängen, noch heute gehört eine wissenschaftlich werthvolle Geschichte von Nürn¬ berg, Frankfurt, Hamburg, Breslau, Danzig oder einer andern großen Stadt zu den größten Seltenheiten. Das scheint unglaublich. Hat nicht fast jedes Jahrhundert einer größern Stadt mehr als einen fleißigen und gelehrten Bür¬ ger gefunden, der die Merkwürdigkeiten und Schicksale seiner Gemeinde nieder¬ schrieb und dabei die frühern Aufzeichnungen sorglich benutzte? Wenn diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/320>, abgerufen am 05.02.2025.